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Aus: 60 jahre ddr, Beilage der jW vom 07.10.2009

Ganz und gar bei Sinnen

60 Jahre nach ihrer Gründung und 19 Jahre nach ihrem Anschluß an die Bundesrepublik beweist das Geschrei über die DDR: Dort gab es Vernunft
Von Arnold Schölzel
Bild 1

Am 3. Oktober 2009, dem »Tag der Deutschen Einheit«, bauten sich auf dem Berliner Alexanderplatz einige junge Männer vor einem großen Bild des Brandenburger Tores auf, das zu der Ausstellung »Wir sind das Volk« gehört. Sie reckten die rechten Arme zum Hitlergruß hoch, ließen sich so fotografieren und verschwanden nach geraumer Zeit unbehelligt in der Menge.

Zwei Tage später berichtete der Erziehungswissenschaftler Benjamin Ortmeyer in der tageszeitung über eine Kontroverse in Jena. Dort wurde 1991 der Karl-Marx-Platz in Peter-Petersen-Platz umbenannt. Peter Petersen galt als »Vater der Reformpädagogik in Deutschland«. Daß er Autor zahlreicher Nazischriften war, wurde »als Bagatelle abgetan« (Ortmeyer). Immerhin hielt der Herr z. B. 1944 im KZ Buchenwald Vorträge vor inhaftierten norwegischen Studenten. Sie sollten zum Eintritt in die Waffen-SS bewogen werden.

Die Umbenennerei von Straßen, Plätzen, Kindergärten, Schulen und Kasernen oder das öffentliche Auftreten von Neonazis sind nicht entscheidende Aspekte des DDR-Anschlusses von 1990. Die Herbeiführung eines Zustandes, in dem von deutschem Boden kein Frieden mehr ausgeht, sondern mehr und mehr Krieg, oder die Einführung von Massenarbeitslosigkeit, Niedriglöhnen und Strafrenten waren bewußt herbeigeführte, wesentliche Ziele der Einverleibung des kleineren deutschen Staates. Was die Absicht zu Krieg angeht, geben die Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 deutliche Auskunft; was die Ökonomie betrifft, genügt es, auf jüngst veröffentlichte Resultate des »Aufschwung Ost«, der offiziell kaum noch so heißt, zu verweisen: In Mecklenburg-Vorpommern wächst jedes dritte Kind in Armut auf, der Abwanderungssaldo ist wieder gestiegen, der Anteil der Hartz-IV-Betroffenen und Niedriglöhner liegt weit über dem Westdeutschlands. Zwischen Deutschtümelei und Anti-DDR-Kampagnen schwankt der verordnete Emotionalismus, der im Osten nur wenig bewirkt außer Langeweile und im Westen seine besten Tage auch hinter zu haben scheint. Krise des Kapitals und antisozialistische Propaganda wirken zusammen nicht besonders überzeugend. Die Leier von den »Hinrichtungskellern« (Die Welt) des Regimes, das Geschwätz vom »historischen Verbrechen« (FAZ), das die DDR dargestellt habe, prägt allerdings den Unterricht in Schulen und Hochschulen.

Eine Begleiterscheinung und Folge dieser nun 20 Jahre andauernden Hysterisierung der DDR-Geschichte sind auch die Benennung von öffentlichen Orten nach verdienten Nazis, Wehrmachtgenerälen oder wenigstens deutschen Fürstenhäusern und das offene Auftreten von Neonazis. Sie können sich in wohlfühlen. Wer nach Alexander Puschkin benannte Schulen wegen »Unbekanntheit« des Namensgebers umtauft oder z. B. die Ostberliner Heinrich-Heine-Schule in ein Devotiona­lienkabinett für die preußische Königin Luise verwandelt, schafft jenes Milieu, in dem sich der braune Mob willkommen fühlt. Wer gemeinsam mit Bild und BND auf »Stasi«-Jagd geht und das als Eintreten für Bürgerrechte und Demokratie verkauft, dem ist – wie die Erfahrung beweist – jedes Mittel recht, das der vermeintlichen Ausmerzung der DDR dient.

Geistige Verwirrung, politische Resignation und Irrationalismus sind Programm dieser Gesellschaft. Mit einem Land, das »ganz und gar bei Sinnen« war, wie Peter Hacks es ausdrückte, kann sie nichts anfangen. Argumente hat sie nicht, hören und sehen will sie nicht. Daß Vernunft in der DDR war, beweist das Geschrei täglich neu.

Die Illustrationen dieser Beilage entnahmen wir dem Buch von Constanze Treuber: So haben wir uns eingerichtet. Das DDR-Zuhause-Buch. Wir danken dem Eulenspiegel Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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