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Aus: kuba 2006, Beilage der jW vom 19.07.2006

»Jugend steht an erster Stelle«

Über die Attacken Washingtons und die Rolle der EU sowie die Perspektive der kubanischen Revolution. Ein Gespräch mit Ricardo Alarcón de Quesada
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Ricardo Alarcón de Quesada ist Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas, Mitglied des Politbüros und Präsident des kubanischen Parlaments.


Herr Alarcón, der US-Präsident George W. Bush hat vor wenigen Tagen erneut über 80 Millionen US-Dollar für den Kampf gegen Ihre Regierung bewilligt. Er ist damit den Empfehlungen des Berichtes der sogenannten Beratungskommission für ein freies Kuba nachgekommen. Hat Sie das überrascht?

Nein. Die Bewilligung dieser Gelder bedeutet eine Verschärfung der kriminellen und illegalen Politik. Wenn ich eine historische Parallele zu diesem Dokument suche, dann fällt mir nur Hitlers »Mein Kampf« ein. Dieses Machwerk ist das einzige andere Beispiel in der Geschichte, mit dem ein Staat die Zerstörung eines anderen ankündigt. Der Bericht dieser Kuba-Kommission beginnt mit dem Hinweis, daß dieses Dokument nur den freigegebenen Teil der Gesamtplanungen darstellt und daß es andere Maßnahmen gibt, die »aus Gründen der nationalen Sicherheit« nicht veröffentlicht werden könnten.

Welche Folgen hatte diese Politik denn bislang?

Zu den Maßnahmen, die in dem Bericht aufgeführt werden, zählt das Verbot, humanitäre Güter nach Kuba zu senden. Auch der Export von medizinischen Produkten nach Kuba wird verboten, während unser Land medizinische Hilfe in Staaten Afrikas, Lateinamerikas und anderen Teilen der Welt leistet. Aber die Maßnahmen der USA richten sich auch gegen Deutschland und Europa. In Kapitel vier des Helms-Burton-Blockadegesetzes werden Unternehmer, die in Kuba investieren, damit bedroht, die Einreise in die USA verwehrt zu bekommen. Ein anderes Kapitel dieses Gesetzes ermöglicht es, wenn auch selektiv, ausländische Geschäftsleute vor US-Gerichten anzuklagen, sofern sie in Kuba tätig sind. Vielleicht erinnern Sie sich, daß die USA und die Europäische Union 1996 einen Pakt geschlossen haben: Die EU hat sich damals verpflichtet, vor dem Schiedsgericht der Welthandelsorganisation nicht gegen das im gleichen Jahr erlassene Blockadegesetz zu klagen. Im Gegenzug sagte die damalige Regierung in Washington zu, die extraterritorialen Bestimmungen nicht auf europäische Konzerne anzuwenden. In dem aktuellen Kuba-Bericht wird nun explizit erklärt, daß die entsprechenden Passagen gegen Unternehmen angewendet werden, die in die kubanische Nickelindustrie, die Erdölraffinierung oder in den Tourismus investieren. Natürlich trifft das auch europäische Unternehmen.

Erwarten Sie denn nun auch aus Europa Widerstand gegen diese Verschärfung der Blockade?

Nein, einen solchen Widerspruch erwarten wir nicht. Die EU handelt als Instrument der Vereinigten Staaten, und daher unterstützt sie die Politik Washingtons gegen Kuba. Washington behandelt Europa hingegen so, wie das alte Rom mit seinen Söldnerheeren umgegangen ist. Das Schweigen zu dem jüngsten Kuba-Bericht ist die Bestätigung für dieses Verhältnis. Und das, obwohl die USA den Deal von 1996 aufgekündigt haben. Es ist seltsam, daß aus den Staaten der EU auf diese neue wirtschaftliche Bedrohung noch nicht einmal reagiert wird.

Trotzdem setzen viele Linke auch in Lateinamerika nach wie vor große Hoffnung in die EU, weil sie in ihr ein Gegengewicht zur Macht der USA sehen.

Darin liegt das große Paradoxon. Aber ich denke, daß auch Europa eines Tages seine Unabhängigkeit wiedererlangen wird. Derzeit ließe sich vermuten, daß die Europäische Union von der Supermacht abhängig ist. Viele europäische Politiker sind von der US-Philosophie so eingenommen, daß sie nicht merken, wie die Macht der Vereinigten Staaten zerbröckelt. Die USA sind heute von zahlreichen Problemen belastet, im Land und außerhalb. Deswegen ist eine unabhängige europäische Politik überfällig. Und wenn ich unabhängig sage, meine ich nicht notwendigerweise eine sozialistische, revolutionäre Politik. Ich stelle mir vielmehr eine souveräne Politik einer Europäischen Union vor, die sich nicht als Anhängsel der USA versteht.

Regierungen von EU-Staaten und Washington geben vor, weltweit gegen den Terrorismus zu Felde zu ziehen, etwa in Afghanistan und Irak. Havanna wirft den USA derweil vor, selbst Terror zu schüren, indem sie gewaltbereite Gruppen im eigenen Land gewähren lassen. Wie konkret ist die Gefahr für Kuba?

Es ist nicht lange her, da hat die US-Bundespolizei FBI ein Lager mit 1500 Waffen aufgespürt, die für den Kampf gegen Kuba bestimmt waren. Wenige Monate zuvor war Santiago Álvarez festgenommen worden, ein enger Vertrauter des Terroristen Luis Posada Carriles. Auch Álvarez hatte erhebliche Waffenbestände gehortet.
Ein dritter antikubanischer Aktivist geriet ins Visier des FBI wegen eines Streits mit der Kubanisch-Amerikanischen Nationalstiftung (CANF). Dieser Mann hatte der größten Organisation des kubanischen Exils zwei Millionen US-Dollar gezahlt, damit sie ihm Waffen, einen Helikopter und Flugzeuge beschafft. Als die Stiftung das Geld behielt und die Waffen nicht lieferte, machte er den Deal publik. Er forderte im Fernsehen, daß sie ihm entweder das Geld zurückgeben oder das Kriegsgerät liefern solle. Er sagte das öffentlich, und es ist nichts geschehen!

Der ehemalige CIA-Mitarbeiter Luis Posada Carriles ist aber immer noch in den USA inhaftiert.

Er wird tatsächlich in einer Haftanstalt in El Paso im US-Bundesstaat Texas festgehalten. Aber nicht wegen der terroristischen Verbrechen, die er begangen hat, sondern wegen vermeintlichen Verstößen gegen die Einreisebestimmungen. Dabei sind die Hintergründe bekannt. Posada Carriles floh 1985 aus einem Gefängnis in Venezuela, wo ihm die führende Beteiligung an dem Anschlag gegen ein kubanisches Zivilflugzeug im Jahr 1976 vorgeworfen wurde. Die Vereinigten Staaten sind nun durch internationale Abkommen verpflichtet, ihn entweder nach Venezuela auszuliefern oder ihm in den USA den Prozeß zu machen, zumal er nicht irgendein Verdächtiger ist, sondern der Hauptverdächtige für den Anschlag. Trotz dieser eindeutigen Rechtslage befindet sich Posada Carriles nun seit einem Jahr in der Obhut der US-Behörden. Ihm wurde weder der Prozeß gemacht, noch wurde er ausgeliefert. Statt dessen halten sie ihn in einem Abschiebegefängnis fest. Das bedeutet nichts anderes, als daß er von den US-Behörden beschützt wird. Sie wollen verhindern, daß er für seine Taten vor Gericht gestellt wird. Zur gleichen Zeit läuft Orlando Bosch, ein weiterer Terrorist, in Miami offen auf der Straße herum. Und während dies alles geschieht, sind fünf Kubaner in US-Gefängnissen inhaftiert, weil sie nichts anderes getan haben, als an Informationen über die Terrorpläne dieser Leute zu gelangen.

Tatsächlich ist die Kampagne für Ihre Landsleute, die »Cuban 5«, ein wichtiges Thema für Kuba und für die Solidaritätsbewegung. Von wem werden Sie dabei unterstützt?

Was Europa angeht, so muß ich sagen, daß zumindest die Regierungen nichts tun, was ihr Verhältnis zu Washington belasten könnte. Auf der anderen Seite wurden in den EU-Staaten in den vergangenen Jahren zahlreiche Solidaritätskomitees gegründet, die mit uns für die Freilassung der fünf Genossen kämpfen. In einigen wenigen EU-Ländern wurde der Fall in den Parlamenten thematisiert. Wenn die Regierungen auch untätig geblieben sind, so hat sich auf gesellschaftlicher Ebene viel getan.

Und welche Schritte folgen nun?

Der 12. September ist ein zentrales Datum in der Kampagne. An diesem Tag jährt sich die Inhaftierung der fünf Männer zum achten Mal. Seither hat der Protest stetig zugenommen. Im Mai vergangenen Jahres hat die »UN-Kommission gegen willkürliche Verhaftungen« die Gefangennahme nach zwei Jahren eingehender Prüfung als willkürlich und illegal bezeichnet. Anfang August 2005 hat auch ein Berufungsgericht in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia die Urteile aufgehoben. Seither ist ein Jahr vergangen, und die fünf Männer sind immer noch im Gefängnis. Wir unterstützen daher die Idee, den achten Jahrestag ihrer Inhaftierung zum Anlaß für eine internationale Protestwoche zu nehmen. Danach gibt es ein weiteres wichtiges Datum: Am 21. September vor 30 Jahren wurden in der US-Hauptstadt Washington Orlando Letelier und Ronnie Moffitt ermordet. Orlando war Minister im Kabinett von Salvador Allende, und Ronnie war eine junge Amerikanerin, die den Kampf gegen die Pinochet-Diktatur in Chile unterstützte. In diesem Jahr wurden Dokumente veröffentlicht, die belegen, daß die damalige US-Regierung, vor allem ihr Außenminister Henry Kissinger, von diesen Plänen wußte. Er kannte auch die Hintermänner: Orlando Bosch und Luis Posada Carriles. Diese Fakten sind seit jüngstem öffentlich, aber die US-Regierung bleibt weiter untätig.

Aber in Kuba spielt nicht nur diese Bedrohung aus den USA eine Rolle. In einer Rede Mitte November vergangenen Jahres hat Präsident Fidel Castro offen die Zukunft der Revolution angesprochen. Er hat dabei auch die Gefahren thematisiert: Korruption etwa. Existiert neben der Gefahr von außen auch eine innere Bedrohung?

Die Rede von Fidel ist Teil einer tiefgreifenden Analyse, die wir anstellen. Aber die Analyse ist nicht neu. Diese Debatte reicht mindestens bis zum Kollaps des Sozialismus in Europa zurück, als die Sowjetunion ebenso verschwand wie die DDR und ihre Bruderstaaten. Wir haben uns damals natürlich auch die drängenden Fragen gestellt: Was ist geschehen? Wie konnte das geschehen? Aber diese Diskussion wurde nicht nur von der Linken geführt, sondern auch im rechten Lager. Für viele Linke war der Sozialismus so etwas wie das Ende der Geschichte, eine Gesellschaft, die niemals zerstört werden könnte. Aber die Geschichte hat das Gegenteil bewiesen, und das hat auch Fidel in seiner Rede formuliert: Die Revolution wird von Menschen gemacht. Deswegen liegt es an den Menschen, sie zu verbessern, oder sie zum Scheitern zu bringen. Das Wichtigste ist aber, daß sich die Revolution weiterentwickelt. Diese Idee ist in Kuba schon lange präsent. Sie ist zum Beispiel in den Büchern von Che Guevara aus den sechziger Jahren zu finden, in denen er das Ende des sowjetischen Systems prognostiziert hat. Che hat dafür plädiert, die ethischen und moralischen Faktoren in den Mittelpunkt zu stellen, nicht die materielle oder wirtschaftliche Entwicklung. Diese Meßlatte kann man dem Kapitalismus anlegen, nicht aber der sozialistischen Gesellschaft.

Welche Lehren ziehen Sie also aus dem Kollaps der sozialistischen Staaten?

Wir sind bemüht, unseren Sozialismus stetig zu verbessern. Dieser »Kampf der Ideen«, wie er in Kuba heißt, wird in all seinen Programmen und Projekten von Jugendlichen angeführt, die Jugendorganisationen sind führend beteiligt. Sie sind es, die auch gegen die Korruption kämpfen, gegen den Mißbrauch der Ressourcen, gegen die bürgerliche Mentalität und kapitalistische Verhaltensweisen, die in den vergangenen Jahren leider wieder aufgekommen sind. Das war nicht vermeidbar, weil wir unter dem Eindruck der Krise kapitalistische Mechanismen teilweise einführen mußten. Aber wir sind uns der Gefahren dieser Entwicklung bewußt. Und die Jugend steht an erster Stelle im Kampf gegen sie.

Die Geschichte hat auch eine andere Lehre: Daß revolutionäre Prozesse immer mit ihren Anführern identifiziert werden – und meist mit ihnen enden. Weshalb soll das in Kuba anders sein?

Den historischen Beleg dafür haben wir schon: Die sozialistischen Staaten in Europa gibt es nicht mehr, das sozialistische Kuba existiert aber noch immer. Der Grund dafür ist, daß unsere Revolution tief in der Geschichte und in der Kultur Kubas verwurzelt ist. Sie begann nicht 1959, sondern am 10. Oktober 1868 mit dem Kampf gegen die spanischen Kolonisatoren. Dies war auch ein Kampf für die Gleichheit der Menschen. Unter den kubanischen Unabhängigkeitskämpfern haben sich auch farbige Generäle befunden, es gab auch afrokubanische Parlamentsabgeordnete. Und das zu einer Zeit, zu der weder in Europa noch in Nordamerika die Gleichheit aller Menschen überhaupt thematisiert wurde. Die kubanische Revolution hat im Laufe ihrer Geschichte viele ihrer Anführer verloren. Unter ihnen auch José Martí, der 1895 fiel. Aber ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß diese Revolution unsere Generationen weit überdauern wird.

Das Gespräch führte Harald Neuber

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