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Aus: Ausgabe vom 01.09.2006, Seite 12 / Feuilleton

Kommerzielles Pfeifentum

Das neue Buch des Chef-Wichtig-Wichtig-Pfeifenrauchers ist bereits ausverkauft. Von seiner Waffen-SS-trächtigen-Autobiographie »Beim Häuten der Zwiebel« hat Günter Grass die komplette Erstauflage (150000 Exemplare) zwei Wochen nach Erscheinen abgesetzt, berichtet Bild. Die zweite Auflage in Höhe von 100000 Exemplaren liefere der Göttinger Steidl-Verlag bereits aus. Insofern liegt die Bestsellerpsychologin Margarete Mitscherlich (»Die Unfähigkeit zu trauern«) völlig daneben, wenn sie Cicero erzählt, ihrem Eindruck nach wäre Grass »seinem eigenen Über-Ich ein strenger Lehrer gewesen (...). Möglicherweise sehen wir in all dem eine Art von gespaltener Persönlichkeit, die sich selbst nicht erlaubt, fehlbar zu sein«. Unbewußt habe der Literaturnobelpreisträger versucht, dem Ideal des »reinen Vorbilds« zu entsprechen, weshalb es für ihn immer schwieriger geworden sei, seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS zuzugeben. Das Gegenteil ist richtig: Ohne seine späten Bekenntnisse hätte sich kein Mensch für das neue Grass-Buch interessiert. Um weiter im Gespräch im zu bleiben, will Grass den Görlitzer »Brücke-Preis«, mit dem Verdienste für die deutsch-polnische Nachbarschaft ausgezeichnet werden, nicht annehmen. Er wolle weder Görlitz noch den Preis diskreditieren. Zudem befürchte er Proteste während der Preisverleihung.

(AFP/ddp/jW)

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