Gegründet 1947 Sa. / So., 27. / 28. Dezember 2025, Nr. 300
Die junge Welt wird von 3063 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 27.12.2025, Seite 9 / Schwerpunkt
Imperialismus

Krieg und Kriegen

Vermehrung kriegerischer Konflikte weltweit: Epoche im Umbruch
Von Felix Bartels
Pericles's Funeral Oration
Oft von US-Präsidenten zitiert: Perikles ruft den Gegensatz von Demokratie und Autokratie aus und die Athener zum Krieg (Philipp von Foltz, 1852)

Es ist Krieg. Kriiiieg. Ganz lang zog Fred Düren das i, in Gestalt des Trygaios während der Uraufführung der Aristophanischen »Eirene« nach der Bearbeitung von Peter Hacks, 1962 in Berlin war das. Beim Krieg decken sich Sache und Begriff. Das Wort klingt bemerkenswert hässlich, obgleich man gar nicht so genau trennen kann, was hier was beeinflusst, da man die Sache ja immer schon mit dem Wort assoziiert. Seine Wurzeln reichen ins tiefste Indogermanisch zurück, Krieg ist so alt wie die Menschheit. Im Mittelhochdeutschen hieß es kriec, im Althochdeutschen chreg, beides bedeutet Anstrengung oder Kampf (ähnlich doppelbelegt wie das arabische Dschihad). Das altgriechiche polemos hat eine andere Wurzel, von der wieder leitet sich das moderne Wort Polemik ab, die kriegerische Rede, wenn man so will. Keine Schlacht ohne Rede, kein Krieg ohne Propaganda. Die Regel nämlich ist, dass irgendwer für irgendwen ins Feld ziehen und folglich überzeugt werden muss, dass er das nicht für einen anderen, sondern auch und vor allem für sich tue.

Ist das die älteste Geschichte der Welt? Es scheint so. Die älteste Theorie hierzu, zumindest die älteste materialistische und in sich schlüssige, stammt von Thukydides. In seiner »Geschichte des Peloponnesischen Kriegs« gibt er drei Ursachen an, aus denen Kriege entspringen: das Mehrhabenwollen, ein primär ökonomisches Motiv, den Ehrgeiz, verbunden dem narzisstischen Komplex, dem sich nationalistisch wie auch religiös motivierte Konflikte zuordnen lassen, und die Angst, genauer die, aus der man gerade selbst das tut, was man von anderen befürchtet. Es gibt feiner strukturierte, detailliertere Theorien zum Phänomen des Krieges, die von Thukydides hat den Vorteil, auf der möglichst einfachen Ebene möglichst umfassend zu sein.

Die Thukydideischen Elemente ermöglichen zugleich einen spezifischen Zugang zu unserer Jetztzeit. Offensichtlich leben wir im Umbruch. Einer aktuellen Studie zufolge ist die Zahl politischer Konflikte in der Welt im laufenden Jahr so hoch wie noch nie. Es hat blutigere Zeitalter gegeben, doch keines, in dem die Zahl der Brandherde so hoch war. 1.450 Konflikte unterschiedlicher Intensität werden in der »Sicherheitsbilanz 2025« erfasst, die vom Geodatendienst »Michael Bauer International« herausgegeben wird. Dabei seien im laufenden Jahr 70 hinzugekommen, 18 wurden beigelegt. Unter den bis Ende September erfassten Konflikten sind mit 89 Kriegen 11 mehr als im Vorjahr aktiv, die als Kriege klassifizierten Konflikten verteilen sich auf 31 Länder. Hinzugerechnet werden neben den medial präsenten Feldzügen in der Ukraine und in Gaza andauernde bewaffnete Kämpfe in Subsahara-Afrika und Teilen Asiens. Die Studie unterscheidet verschiedene Grade von Konflikten, die stärksten Eskalationen im Jahr 2025 haben demnach in Somalia, der Demokratischen Republik Kongo und Burkina Faso stattgefunden. Vorgänge, die im Verhältnis zu ihrem tatsächlichen Ausmaß und ihrer tatsächlichen Bedeutung in europäischen Medien, wo man vor allem über Ukraine und Gaza berichtet, wenig wahrgenommen werden.

Nicht alle Konflikte, die unterhalb der Kriegsschwelle verortet werden, sind frei von physischer Gewalt. Zu den Konflikten um Sanktionen, Zölle und Beschränkungen von Investitionen, Ex- oder Import, die teils erhebliche, auch existentielle Auswirkungen haben, zählen demnach auch 523 in Gewalt eskalierte Krisen, die (noch) nicht als Kriege klassifiziert wurden. Diese Fälle »reichen von Protesten, die vorübergehend gewalttätig werden - rund 140 Protestkonflikte in Ländern wie Frankreich, Serbien, Mexiko oder den Philippinen – bis hin zu Auseinandersetzungen mit bewaffneten Gruppen in Staaten wie der Zentralafrikanischen Republik, Indien oder Indonesien«, sagt der Politikwissenschaftler Nicolas Schwank laut dpa. Ebenfalls in die Kategorie fallen grenzüberschreitende Kollisionen wie zwischen Sudan und Südsudan oder zwischen Äthiopien und Kenia.

Empirische Daten, die den allgemeinen Eindruck, den der Beobachter vom Epochenabschnitt haben muss, bekräftigen. Bewaffnete Konflikte nehmen weniger im Ausmaß als vielmehr in ihrer Zahl zu. Das ist wichtig, denn für die Beurteilung der Weltlage sind Anzahl und Verteilung von Konflikte relevanter als deren jeweilige Schwere. Überall auf der Welt wird gekämpft, und das will etwas bedeuten.

Sag mir, wo du herkommst, und ich sage dir, wohin du gehst. Nachdem eine multipolare Weltlage im 20. Jahrhundert zu zwei Weltkriegen geführt hatte, schien während des Kalten Kriegs eine relative Stabilität gegeben. Relativ, denn natürlich war auch dieser Abschnitt von Kriegen geprägt, insonders, neben territorialen Konflikten außerhalb Europas, von Interventionen imperialistischer Staaten, Hauptakteur hier die Vereinigten Staaten von Amerika. Gleichwohl hielt die Weltordnung eine Art Stabilität, von der dieser Tage nicht mehr zu reden geht. Was zum einen mit der territorialen Integrität Europas und Nordamerikas zu tun hatte, die einen transatlantischen Sicherheitsraum militärisch und wirtschaftlich privilegierter Staaten möglich machten, von dem aus militärisch oder politisch in andere Weltgegenden eingegriffen werden konnte. Zum anderen wirkte sich die bipolare Struktur zwischen dem Machblock der sozialistischen und dem der imperialistischen Staaten offensichtlich bremsend und stabilisierend auf das Weltganze aus.

Mit dem Wegfall des sozialistischen Staatenblocks entstand eine hegemoniale Struktur. Die USA waren ihres Gegenspielers ledig, und zu Beginn der neunziger Jahre herrschte eine heute kaum noch verständliche Euphorie. Es ist leicht, im nachhinein über Francis Fukuyamas »Ende der Geschichte« zu spotten. Obgleich er seine Argumentation durchaus überlegter war als seine Rezeption vermuten ließ, drückte sie allerdings die allgemeine Stimmung aus, man hatte sich am Sieg im Systemkampf besoffen.

Einigermaßen klar sah dabei ausgerechnet ein routinierter Stratege des Weißen Hauses. Zbigniew Brzeziński, von 1977 bis 1981 Sicherheitsberater für Jimmy Carter, schrieb 1997 »The Grand Chessboard«, worin er die Lage nach dem Ende des Kalten Kriegs analysierte und ein strategisches Konzept zu deren Handling entwarf. Die hegemoniale Stellung der USA als »einzige Weltmacht« war für ihn kein Geschenk, oder wenn eins, dann ein vergiftetes. Wo ein Staat globale Hegemonie hat, entsteht unvermeidlich eine Dynamik. Mittelmächte und kleinere Staaten schließen sich zusammen, unterlaufen Bündnisse, die Beziehungen werden insgesamt bilateraler. Das Chaos nimmt zu, nicht ab, kann aber noch weitgehend unter den Netzen gehalten werden. Brzeziński riet zu einer Strategie der Spaltung von oben, zum gezielten Vertiefen von Differenzen zwischen den übrigen imperialistischen Mächten im Wartestand, die gegeneinander ausgespielt werden sollten. Diese Strategie konnte vordergründig ein Verbinden verschiedener Staaten gegen die USA verhindern, zugleich führten die hierzu angewandten Mittel (geheimdienstliche, diplomatische, ökonomische, militärische) zu mehr Chaos, mehr Brandherden global.

Und dieses kontrollierte Chaos, das sich durch die Kontrolle letztlich weiter vermehrte, war der Boden, auf dem die Entwicklungen der letzten Jahre stattfanden. Die aus der Bipolarität geerbte Unipolarität geht über in eine Multipolarität. Dem transatlantischen Block gegenüber konstituiert sich ein Block um Russland, das bereits keine Mittelmacht mehr ist, dessen militärisches, wirtschaftliches und diplomatisches Repertoire vorerst allerdings noch nicht reicht, mehr als die Anrainerstaaten zu kontrollieren. Gegenwärtig erscheint die sich entwickelnde Multipolarität als unausgereifte Bipolarität, weil ein dritter Block sich noch nicht abzeichnet. Anders als während des Kalten Kriegs hat die gegenwärtige Weltlage aber nicht das Potential zu einer festen bipolaren Struktur.

Die großen Akteure der globalen Konflikte – lediglich China wäre hier auszunehmen – haben keine tiefen Differenzen, was ihre gesellschaftliche Einrichtung, ihren Systemcharakter betrifft. Es handelt sich um voll entfaltete oder in Entfaltung befindliche Player einer Epoche mit imperialistischen Strukturen. Die globale Konstellation der Jetztzeit ähnelt nicht der des Kalten Krieges und auch nicht der um 1939. Sofern eine historische Analogie überhaupt möglich ist, dann wäre die Referenz um 1914 zu suchen. Die Kämpfe unserer Gegenwart haben eher Konkurrenz- denn Systemcharakter, was sich dann auch auf die Beziehungen und Bündnisse auswirkt, die unter Bedingungen bloßer Konkurrenz viel eher austauschbar, folglich weniger stabil sind. Oder, um die ein wenig abgenutzte Metapher auch hier mal zu bemühen: Die Multipolarität ist in der Unipolarität enthalten wie das Gewitter in der Wolke.

Friedenspropaganda statt Kriegsspielzeug

Mit dem Winteraktionsabo bieten wir denen ein Einstiegsangebot, die genug haben von der Kriegspropaganda der Mainstreammedien und auf der Suche nach anderen Analysen und Hintergründen sind. Es eignet sich, um sich mit unserer marxistisch-orientierten Blattlinie vertraut zu machen und sich von der Qualität unserer journalistischen Arbeit zu überzeugen. Und mit einem Preis von 25 Euro ist es das ideale Präsent, um liebe Menschen im Umfeld mit 30 Tagen Friedenspropaganda zu beschenken.

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Regio: