Der Kampf um die Rente
Von Daniel Bratanovic
Das Prinzip der Feudalherrschaft ist die äußere Gewalt Einzelner, Fürsten, Dynasten, ohne Rechtsprinzip in sich selbst; (…) Die Feudalherrschaft ist eine Polyarchie: Es sind lauter Herren und Knechte. (G. W. F. Hegel)
Der deutsche Bauernkrieg endete, wo er begonnen hatte. In Grießen im Klettgau am südwestlichen Rand des Reichs stellten sich am 5. November 1525 rund 1.000 Bauern einem Adelsaufgebot von 1.500 Mann, darunter 600 Berittene. Es war die letzte Schlacht des Bauernkriegs nördlich der Alpen. Der Haufen kämpfte tapfer, blieb aber ohne Chance. Unter Zusicherung ihres Lebens kapitulierten die Bauern schließlich, indes die als Anführer Ausgemachten grausam bestraft wurden. Dem Hauptmann stach man die Augen aus und hieb ihm zwei Schwurfinger ab, ebenso dem Grießener Laienprediger, dem man zudem die Zunge herausschnitt. Vom letzten Widerstandsnest, der benachbarten Stadt Waldshut, also dort, wo für manchen Chronisten alles, was mit dem Bauernkriegsgeschehen in einem Zusammenhang steht, seinen Ausgang genommen hatte, konnte Christoph Fuchs von Fuchsberg, der kaiserliche Rat im österreichischen Auftrag, Erzherzog Ferdinand Mitte Dezember vermelden, dass sich die Stadt ergeben und er sie mit einer Anzahl Knechte für Habsburg wieder in Besitz genommen habe. Abgesehen vom militärischen Abgesang, den der rasch radikalisierte ehemalige Brixener Hauptmann und Bauernführer Michael Gaismair im Frühjahr 1526 in Salzburg und Tirol orchestrierte, war der Bauernkrieg im Reich vorbei.
Was aber endete beziehungsweise scheiterte da? Der »großartigste Revolutionsversuch des deutschen Volkes«, wie Friedrich Engels urteilte? Eine »Revolution des Gemeinen Mannes«, wie der westdeutsche Historiker Peter Blickle eine Nummer kleiner befand? Oder war es bloß, wie neuerdings dessen Kollege Gerd Schwerhoff zum Ende seiner gut 700 Seiten dicken, auf die schiere Ereignisgeschichte konzentrierten Darstellung die Sache herunterspielt, eine »wilde Handlung«, bedeutsam zwar, aber eben ohne »transformatives Potential«?¹ In direktem Gegensatz zu dieser Einebnung in ein historisches Kontinuum steht eine inzwischen weitgehend in Vergessenheit geratene Einschätzung, auf die sich Historiker der DDR gemeinsam verständigt hatten: Der deutsche Bauernkrieg vor inzwischen 500 Jahren war der Höhepunkt einer im Kontext der Reformation letztlich erfolgreich verlaufenden »frühbürgerlichen Revolution«.
Von diesem Kompositum ist Erklärung verlangt. Welche Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse hat zu welchem Ende hin stattgefunden, und wenn »frühbürgerlich«, was eine Art historisches Zwischenreich zu markieren scheint: Welche Zustände herrschten vor, welche nach diesem behaupteten epochalen Einschnitt? Erstrebten die Subjekte dieser Revolution genau dies – bürgerliche Verhältnisse?
Die Welt, die einen umfangen hält, formt, staucht und verzerrt – weil sie alles ist, was erfahren wird – den Blick auf die Vergangenheit. Der Versuch einer Bestimmung der um 1500 zwar krisenhaften, aber doch weitgehend intakten Feudalgesellschaft, von der sich selbst im Europa des 20. Jahrhunderts noch Residuen finden lassen, unterliegt nicht selten dem Fehler, ihr mit Maßstäben und Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft zu Leibe zu rücken oder sie romantisch zu verklären. Danach waren vorbürgerliche Gesellschaftsformen entweder bloß unentwickelte Vorstufen des Kapitalismus, oder aber es herrschten dort natürliche und gerechte Zustände vor dem Sündenfall der Bildung von Privateigentum. Die Schwärmerei für Ritter und Burgen, für Königsehre und Prinzessinnenstolz, die noch jeden Fantasyroman der Jetztzeit grundiert, einmal beiseite gelassen, wird der Feudalismus in der Forschung regelmäßig nach den Strukturmustern der Gegenwart konstruiert. Unterstellt wird da eine gesonderte Sphäre des Rechts sowie eine Trennung der Sphären Ökonomie und Politik, die zwar für die bürgerliche Gesellschaft typisch ist, davor aber so nicht existierte.
Persönlich beschränkt
In der Feudalgesellschaft spielten politische Verhältnisse unmittelbar in ökonomische hinein, Menschen traten einander in fester sozialer Bestimmtheit gegenüber, in den besonderen persönlichen Gestalten als »Feudalherr und Vasall, Grundherr und Leibeigner (…) oder als Standesangehörige« (Marx). Die Beziehungen untereinander waren mithin solche persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse, es bestand, noch einmal mit Marx zu sprechen, eine »persönliche Beschränkung des Individuums durch ein andres«.² Herrschaft hatte demnach einen personalen Charakter, weshalb kaum zulässig ist, für die damalige Zeit von einem »feudalen Staat« zu sprechen; oder anders gesagt: Der Feudalismus kannte keine abgesonderte Sphäre der Herrschaft, die unabhängig von konkreten personalen Beziehungen bestand. Autonome Institutionen, die die Lebenszeit einzelner Herrscher überdauerten, fehlten ebenso sehr wie ein Monopol über die Kontrolle der Gewaltmittel.
Unter dem Gesichtspunkt »Wer herrschte da wie über wen?« ergibt sich folglich das Bild extremer Zersplitterung: »fragmentierte Herrschaft«, »parzellierte Souveränität«, »Polyarchie«. Ökonomie und Politik verschmolzen miteinander in der grundlegenden Einheit der Feudalgesellschaft: der Grundherrschaft, die, wie bereits der Begriff anzeigt, nicht bloße wirtschaftliche Unternehmung war, sondern eine »Herrschaftseinheit der Gewalt« – der Ökonomie ist Politik eingeschrieben, Menschen werden Herren zugeteilt, deren jeder ein Stück der exekutiven Gewalt ausübt.
Die Grundherrschaft als Verhältnis von Machtausübung und Unterwerfung erhebt sich über eine Produktionsweise agrarischer Gebrauchswert- und einfacher Warenproduktion auf der Grundlage bäuerlicher Arbeit. Die entscheidenden Quellen des gesellschaftlichen Reichtums heißen daher Land und Arbeit. Die Produktionsmittel (Land, Werkzeug, Vieh, Hof) befinden sich jeweils im Besitz der unmittelbaren Produzenten, der Bauern, die schätzungsweise 70 bis 90 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Der Produktionsprozess der bäuerlichen Einzelwirtschaft geht mithin selbständig vonstatten, bestimmte Formen der Kooperation wiederum integrieren die Bauernwirtschaft zur dörflichen Gemeinde. Die arbeitenden Subjekte verbinden sich im Arbeitsprozess direkt mit ihren Werkzeugen und dem zu bearbeitenden Boden, ohne dass eine andere Person diese Verbindung erst stiften muss. Dieser Umstand markiert im Unterschied zur Sklaverei und zu modernen Lohnarbeitsverhältnissen die Eigenart der feudalen Produktionsweise. In wesentlichen besteht einfache Reproduktion.
Aneignung des Surplus
Das erklärt aber noch nicht das Verhältnis von Herrschaft und Unterwerfung. Macht und Reichtum der Feudalherren setzen voraus, dass sie sich einen über die Reproduktion beziehungsweise die Subsistenz der bäuerlichen Familie hinausgehenden Überschuss, also das Produkt von Mehrarbeit, gewaltsam aneignen können. Der dauerhafte Anspruch auf Aneignung dieses Surplus muss durch eine Verfügungsgewalt über die Produktionselemente begründet werden, die, anders als im kapitalistischen Betrieb, dem Produktionsprozess äußerlich ist. »Dies geschieht in – im wesentlichen – doppelter Weise: durch das Titular- oder Obereigentum am Grund und Boden und seinen Derivaten (Arbeitsmittel) und durch die Bindung (der Arbeitskraft) der Bauern an diesen selbst (Grundhörigkeit) und/oder an den Herrn (Leibeigenschaft), also Herreneigentum am Boden und/oder am Menschen.«³ Aus dem Herreneigentum leiten sich Sanktionsbefugnisse ab, die von der Anwendung direkter physischer Gewalt bis hin zu Formen der Gerichtsbarkeit reichen, die mit der bürgerlichen Rechtsprechung nicht vergleichbar sind. Diese »außerökonomische« Gewalt realisiert die Aneignung der bäuerlichen Mehrarbeit als »Einkommen« des Grundherrn in Gestalt der Grundrente, die ihrerseits im wesentlichen drei Formen annehmen kann, die koexistieren beziehungsweise miteinander verbunden sind: die Arbeitsrente, die Frondienste auf Boden bedeutet, der in direktem Eigentum des Herrn steht; die Produktrente, also die Abgabe von zum Produkt »geronnener« Arbeitszeit, womit die Mehrarbeit in die bäuerliche Einzelwirtschaft hineinverlagert ist; die Geldrente, der eine Verkaufshandlung vorausgegangen sein muss, die ihrerseits wiederum entfaltete Ware-Geld-Beziehungen voraussetzt.
Aus dieser Beziehung zwischen Eigentümern, die über die Bedingungen der Ausbeutung herrschen, und den unmittelbaren Produzenten, ergibt sich der dem Feudalismus zugrundeliegende Klassenkonflikt, wobei der Klassenbegriff nicht rein ökonomisch zu fassen ist, sondern mit dem Standesbegriff verschränkt werden muss: »Die strukturelle Fusion von Ökonomie und Politik bedeutet, dass die ökonomischen Klassen in eine juristisch-politische Standesstruktur eingelassen erscheinen, die einerseits eine grundlegende vertikale Schichtung aufweist (…), andererseits aber horizontal (d. h. hier: regional/lokal) stark differiert und sich als System insgesamt oder in seinen Teilen nach Maßgabe der ökonomischen und politischen Verflechtung oder Selbständigkeit vervielfältigt.«⁴ Diese Einschränkung berücksichtigt, hieß Klassenkampf für den Bauern Kampf ums Mehrprodukt beziehungsweise gegen die Erhöhung oder gar für die Senkung der Feudalrente. Das konnte Arbeitsverweigerung durch Flucht oder Selbstorganisation gegen die feudalherrlichen Forderungen und die Entwicklung von Formen kollektiver Klassenorganisation zum Widerstand gegen die Übergriffe der Herren bedeuten.
Die nun wiederum handelten in ihrem Bestreben, Reichtum und Macht zu wahren und zu mehren, entgegengesetzt: Rentenmaximierung durch Bedrückung der Bauernschaft, interne Ausdehnung der genutzten Landfläche durch Urbarmachung, externe Kolonisierung und Besiedlung von Land in der Regel durch Krieg und Eroberung; direkte Eroberung von Nachbarregionen; »interne« Kriegführung durch gezielte Eroberung und Annexion oder durch Feldzüge, Plünderung, Raub und Lösegelderpressung; dynastische Heiratspolitik, um Land anzusammeln und damit die Einkommensbasis zu erweitern.⁵
Die Nennung dieser Reproduktionsstrategien der Herren verweist neben dem fundamentalen Klassenkonflikt mit den Bauern auf Konkurrenzen untereinander und wirft folglich die Frage nach Stellung und Struktur des Adels als ständischer Klasse in der Feudalgesellschaft auf. Jeder Herr betreibt seine Aneignung individuell. Jede Person oder Gruppe dieses Standes kämpft um den Erhalt oder die Vergrößerung des Anteils an der Gesamtrevenue, paktiert wird lediglich von Fall zu Fall. Es herrscht ein Konkurrenzsystem der feudalen Anarchie oder besser: der »Polyarchie« (Hegel), weil die Gewaltmittel in »jedermanns Hand« sind und gegeneinander benutzt werden; Gewaltenteilung, aber anders. Ausgetragen wird diese Konkurrenz innerhalb eines fragilen Ordnungssystems, das pyramidal aufgebaut ist. Persönliche Bindungen (nicht selten Verwandtschaftsverhältnisse) regulieren das Gegeneinander. Die Herrschaften sind durch Vasallenbeziehungen vertikal miteinander verbunden. Militärische Hilfe und politischer Rat (auxilium et consilium) auf seiten der Vasallen werden aufgrund reziproker Treueerwartung (versichert per Eid) gegen Lehen gegeben, also gegen eine rentenversprechende Abtretung von Ansprüchen über Grund und Boden durch einen Oberherrn. So ergibt sich eine komplex gestaffelte Hierarchie von Herreneigentümern, die deshalb fragil ist, weil einzelne Personen diese vertragsähnliche Beziehung eingehen, die im Falle des Todes eines der Beteiligten erlischt oder bei Treuebruch gekündigt werden kann.
Was oft genug und fehlerhaft als »feudaler Staat« vorgestellt wird, war ein Personenverband mit relativ selbständigen Lehnsinhabern, ein Ensemble von Herrschaften, für die der Krieg raison d’être war: mit Waffen ausgetragene Konkurrenz, bewaffnete Aneignung von bereits angeeigneten Produktionsergebnissen, Bereicherung am Besitz von Herren oder Kaufleuten. »Krieg war die dominante und verallgemeinerte Kulturform des Feudalismus, ein kulturell regulierter Einsatz von Waffengewalt.«⁶ Demgemäß bildete sich in Gestalt der Ritter gleichsam ein aristokratischer Stand von »Berufskriegern« heraus, und nicht zufällig blieb die Entwicklung der Agrartechnologie schleppend, während die militärischen Innovationen sprunghaft waren.⁷ Arbeit und Territorien waren Quellen von Einkommen, um deren Kontrolle gekämpft wurde. Erweiterte Reproduktion der Herren hieß territoriale Eroberung. Aus der strukturellen Rivalität ergab sich, dass Vasallentum nicht statisch war, Territorien des Mittelalters keine festen Grenzen hatten und Tendenzen der Zentralisierung und Dezentralisierung einander während der gesamten mittelalterlichen Geschichte ablösten.
Die Kirche ordnet
Trotz aller regionalen und lokalen Zersplitterung, trotz aller fragmentierten Herrschaft, trotz aller fragil geordneten Unordnung vereint eine Einrichtung alle Menschen des feudalen Europas. Die christliche Kirche des Mittelalters war feudal aneignende Herrschaftsorganisation, aber dank ihrer ubiquitären Präsenz zugleich jene Instanz, die der Alltagspraxis der Menschen und deren Reim auf die Ordnung der Dinge Form und Richtung gab: »Pfarrei reiht sich an Pfarrei – der Okzident ist von einem lückenlosen Netz von Parrochien in den ländlichen Siedlungen und den Städten überzogen, die in Kompetenz und Ausdehnung variieren, nicht aber in der Grundform. Mittels der Pfarrei als kleinster toposozialer Zelle kontrolliert die Kirche als bischöfliche und päpstlich-kuriale Großinstitution die Seelsorge und die Rechtgläubigkeit aller Christen und organisiert ihre Einkünfte. Eine stabile Homogenisierung und Hierarchisierung des christlichen Gesamtraums.«⁸
Die feudale Welt besaß mit der Kirche einen Organisator übergreifender und schier unerschütterlicher weltanschaulicher Legitimation. Die Verhältnisse von Herrschaft und Unterwerfung, von Produktion und Aneignung wurden als gottgewollt vorgestellt. Kritik an diesen Verhältnissen nahm daher zwangsläufig die Form der Häresie an, als Glaubenspraxis mithin, die in den Augen der Kurie die Fundamente kirchlicher Herrschaft angriff – gleich ob in kleinen Zirkeln von Gebildeten gedacht oder von Massenbewegungen des niederen Volkes getragen – und folglich unerbittlich bekämpft werden musste. Um die Wende zum 16. Jahrhundert befand sich die Kirche allerdings in einer Situation, in der sie solche Häresie nicht mehr erfolgreich zurückdrängen konnte. Was hatte sie in diese Lage gebracht?
Das wirft nun endlich die Fragen nach Dynamik, Tendenz, Veränderung und Periodisierung feudaler »Vergesellschaftung« auf. Die Vorstellung, dass es eine Geschichte an sich gibt, die sich von Menschen gestalten lässt, gehört ebenso wie das Denken in Epochen ganz und gar der Moderne an. Der Mensch des Mittelalters orientierte sich an einer Naturzeit: am wiederkehrenden Rhythmus der Natur als Taktgeberin des gesellschaftlichen Lebens. Die zyklische Struktur bestimmte Inhalt und Dauer der bäuerlichen Tätigkeit, bestimmte deren eigenen Zyklus von Ernte zu Ernte. Alle Zeit war konkrete Zeit, und die weltliche Ordnung im Ganzen schien unveränderlich. Die Naturzeit als Orientierungsmaß wurde »überformt und ausgedeutet durch die liturgische Zeit der Kirche, die, indem sie dem Sakralen und dem Profanen ihre Zeit zuwies, sowohl in die Strukturierung des Tages als auch in den Wochen- und Jahresrhythmus eingriff«.⁹ Man konnte das hören: Glocken läuteten die Zeiten des Gebets, der Arbeit und der Muße ein und verkündeten so die herrschaftliche Regulierung der Tageseinteilung, sie waren »Ordnungsinstrumente einer neuen Zeitdisziplin«.
Die religiöse Zeit erschloss zugleich einen neuen Zeithorizont, indem sie mit der Vorstellung von der ewigen Wiederkehr brach. Die Ordnung der Welt stellte sich »nicht mehr als ein immerwährendes Werden und Vergehen, sondern als teleologisches Heilsgeschehen dar«, das Anfang und Ende kennt: Nach christlicher Parusieerwartung sollte am Tag des Jüngsten Gerichts die Wiederkehr Christi erfolgen und mit ihm eine neue Zeit anbrechen. Dieses durchaus lineare Geschichtsdenken als Heilserwartung und Erlösungshoffnung blieb während des gesamten Mittelalters präsent und lebte insbesondere in Krisenzeiten auf.
Krise als Strukturmerkmal
Krisen waren solche der materiellen und daraus folgend der biologischen Reproduktion und geradezu Strukturmerkmale feudaler Gesellschaften, die Bewusstsein und Handlungsweise der Zeitgenossen bestimmten. Daraus etwaige säkulare Trends abzuleiten, bleibt allerdings dem Historiker einer späteren Epoche vorbehalten. Die Forschung hat in ihrem Bemühen um eine Periodisierung der Feudalzeit nach einer Phase der feudalen Expansion und Blütezeit zwischen dem Ende des 10. und dem Beginn des 14. Jahrhunderts, die sich durch Bevölkerungswachstum, wachsendes Agrarprodukt und eine Wiederbelebung der Städte ausgezeichnet hat, eine daran anschließende spätmittelalterliche Krise ausgemacht, die bisweilen als allgemeine Krise des Feudalismus gedeutet wird und bis zum letzten Drittel des 15. Jahrhunderts gedauert haben soll. Kennzeichen waren ein allgemeiner Bevölkerungsrückgang aufgrund von Hungersnöten und Seuchen – vor allem die großen Pestwellen im 14. und 15. Jahrhundert –, waren Wüstungen (Bodenerschöpfung), die Schrumpfung des Agrarprodukts und ein Verfall des Fernhandels.
Im Streit um die Gründe dieser Krise haben marxistisch orientierte Historiker wie der Engländer Rodney Hilton und der Franzose Guy Bois plausibel erklären können, dass der Kampf um die Feudalrente beziehungsweise verschärfte feudale Ausbeutung maßgeblich waren.¹⁰ Eine Krise der adligen Einkommen veranlasste die Grundherren, die Feudalquote zu erhöhen, was das innere Gleichgewicht der bäuerlichen Wirtschaft zerstörte; das Agrarprodukt sank, der Verteilungskampf verschärfte sich – »un cycle infernal de décroissance« (Bois). Die Krise der adligen Einkommen hatte zweierlei Ursachen: Erstens ergaben sich Produktionssteigerungen vor allem aus einer Erweiterung von Anbauflächen und durch den dafür erforderlichen Einsatz vermehrter Arbeitskräfte. Solchen Steigerungen waren also Grenzen gesetzt. Schrumpfte die produktive Bevölkerung durch Seuchen oder Verlassen von erschöpftem Ackerland, sank auch das Renteneinkommen.
Zweitens und womöglich entscheidend: Die permanente militärische Konkurrenz um Gewaltbesitz (»politische Akkumulation«¹¹) verteuerte die Kosten der Herrschaftspraxis. Immer höhere Aufwendungen wurden nötig für die Rüstung einer immer stärker professionalisierten Infanterie und ab dem 15. Jahrhundert auch für Kanonen und damit umgekehrt für eine Verstärkung der Befestigungsanlagen. Die Verteuerung von Herrschaft traf den Adel in unterschiedlichem Maße, etliche hatten keine Chance, ihren Herrenstatus zu reproduzieren. Die Logik dieser »politischen Akkumulation« sorgte dafür, dass bis zur Wende zum 16. Jahrhundert Formen einer eingeschränkt zentralisierten Territorialherrschaft entstanden waren, in denen die Vasallität an Bedeutung verloren hatte, da Feudaldienste mehr und mehr durch eine Steuer- und Ämterstruktur ersetzt worden waren, gleichwohl die Herren (deshalb bloß eingeschränkte Territorialherrschaft) immer noch erhebliche Macht über ihre Bauern ausübten. Was da emporwuchs, waren keine Staaten im modernen Sinne, allerdings deren sehr frühe Vorformen. Herrschaft versachlichte tendenziell, behielt aber immer noch ihren personalen Charakter.
Aus der Krise gehen also protostaatliche Strukturen hervor, das System von Ausbeutung und Gewalt gegen die Bauernschaft bleibt hingegen erhalten. Die Feudalgesellschaft in ihrer intrinsischen Dynamik bringt Neues, erhält Altes – bewirkt sie auch ihren Untergang aus sich heraus? Kaum jemand bezweifelt, dass die Zeit um 1500 eine Epochenschwelle in Europa markiert, doch steht tatsächlich ein Umsturz der überkommenen Produktionsverhältnisse bevor, der die Bezeichnung »frühbürgerliche Revolution« verdient? Und was hatten die Bauern damit zu tun, die – wie Generationen vor ihnen noch immer einem Grundherren unterworfen und zur Abgabe eines Zehnten an die Kirche verpflichtet – auf einem Gebiet pflügten, säten und ernteten, das einmal Territorium eines deutschen Staates sein würde?
Anmerkungen
1 Gerd Schwerhoff: Der Bauernkrieg. Geschichte einer wilden Handlung. München 2024, S. 584
2 Karl Marx: Ökonomische Manuskripte 1857/1858 (Grundrisse), Marx-Engels-Werke, Bd. 42, Berlin 1983, S. 96 f.
3 Ludolf Kuchenbuch und Bernd Michael: Zur Struktur und Dynamik der »feudalen« Produktionsweise im vorindustriellen Europa (1977), in: Ludolf Kuchenbuch: Marx, feudal. Beiträge zur Gegenwart des Feudalismus in der Geschichtswissenschaft, 1975–2021. Berlin 2022, S. 223
4 Ebd., S. 242
5 Vgl. Benno Teschke: Mythos 1648. Klassen, Geopolitik und die Entstehung des europäischen Staatensystems. Münster 2007, S. 69 f.
6 Heide Gerstenberger: Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt. Münster 2006, S. 497
7 Band 2 der von Wolfgang König herausgegebenen Propyläen Technikgeschichte (Karl-Heinz Ludwig und Volker Schmidtchen: Metalle und Macht. 1000 bis 1600, Berlin 1997) enthält kein einziges Kapitel zur Entwicklung in der Landwirtschaft, während das Kapitel »Strukturwandel im Kriegswesen« das mit Abstand umfangreichste ist.
8 Ludolf Kuchenbuch: Das Epochenprofil des christlich-feudalen Okzidents (2004), in: Kuchenbuch, a. a. O., S. 344 f.
9 Dieses und die folgenden beiden Zitate: Alexandra Schauer: Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung. Berlin 2023, S. 55, 56, 57
10 Vgl. Peter Kriedte: Spätmittelalterliche Agrarkrise oder Krise des Feudalismus? In: Geschichte und Gesellschaft, 7 (1981), S. 42–68
11 Vgl. Teschke, a. a. O., S. 69 unter Berufung auf Robert Brenner: The Agrarian Roots of European Capitalism, 1985
Daniel Bratanovic ist Chefredakteur dieser Zeitung. An dieser Stelle schrieb er zuletzt am 29. April 2023 über »Geschichte und Klassenbewusstsein« von Georg Lukács: »Reflexion vor dem Sprung«
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (13. Dezember 2025 um 19:05 Uhr)Vielen Dank für diesen Artikel, der dem Ansatz folgt, einen Zeitabschnitt aus den Strukturmustern seiner Zeit materialistisch zu erklären und so das schiefe Bild der bürgerlichen Geschichtsschreibung gerade zu rücken. Eine inhaltliche Anmerkung sei mir erlaubt: Der Bevölkerungsrückgang durch Seuchenwellen im vierzehnten Jahrhundert dürfte von größerer Bedeutung gewesen sein als dargestellt. Nicht vergessen werden sollte auch, dass in den ersten vierzig Jahren des 14. Jh. eine kleine Eiszeit geherrscht hat, die die landwirtschaftlichen Erträge verringerte und höchstwahrscheinlich das Ausmaß der nachfolgenden Seuchen vergrößerte. »Die Krise als Strukturmerkmal« hat also verschiedene Ursachen, die es lohnt, genauer in die Untersuchung einzubeziehen. Zur technikgeschichtlichen Literatur: Im Abschnitt »Die Technik zwischen Werkzeug und Maschine« von Rolf Sonnemann in »Geschichte der Technik«, 1978, findet frau etwas mehr zur Landwirtscahft als in der Propyläen Technikgeschichte. Wer wissen will warum: Den Namen des Kapitelverfassers googeln. Auf der vorletzten Seite des Buches findet sich: »Dies ist die historische Schlussfolgerung aus der Marxschen Erkenntnis, wonach sich die ›Große Industrie‹ erst dann auf die ihr gemäße Grundlage stellt, wenn Maschinen durch Maschinen erzeugt werden.« So leicht kann man aus dem sechzehnten Jahrhundert in eine Diskussion über »den Übergang vom extensiven zum intensiven Typ der erweiterten Reproduktion« schlittern.
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