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Aus: Ausgabe vom 31.10.2025, Seite 12 / Thema
Fußball

Zwischen Kommerz und Widerstand

Fußball und Klassenkampf: Zur gesellschaftlichen Logik eines populären Spiels
Von Raphael Molter
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Klasseninstinkt der Fankultur. Ultras des 1. FC Magdeburg (29.10.2025)

Fußball ist in Deutschland Volkssport und Massenkultur: eine gesellschaftlich hervorgebrachte Praxis, die gemeinschaftliche Erfahrungen, Emotionen und Zugehörigkeit organisiert. Zugleich ist insbesondere der Profifußball in rechtliche und ökonomische Strukturen eingebunden, die seine öffentliche Attraktivität in private Verwertungsansprüche übersetzen. Er ist damit keine kapitalistische Branche im engeren Sinn, sondern ein kulturelles Feld, das sich unter kapitalistischen Bedingungen reproduziert. Ein System von Eigentumsrechten und Lizenzen, das gesellschaftlich erzeugte Aufmerksamkeit in Kapitalströme verwandelt. Volkskultur und ökonomische Einhegung stehen nicht nebeneinander, sondern vermitteln sich gegen- und wechselseitig. Darin zeigt sich, dass der Fußball ein Terrain des Klassenkampfs ist: ein Ort, an dem gesellschaftliche Widersprüche von Arbeit, Kapital und Kultur sinnlich erfahrbar werden.

Auf der Grundlage des Buchs »Matchplan Meuterei. Fußballfans zwischen Kommerz und Widerstand« entfalte ich eine materialistische Bestimmung dieses Zusammenhangs, der politökonomische Analyse mit hegemonietheoretischen Überlegungen verbindet und historische Befunde aus der marxistisch informierten Forschungstradition zu Körperkultur berücksichtigt. Im Zentrum steht die Auffassung, wonach Fußball sich als gesellschaftlich produziertes, rechtlich geformtes, ökonomisch verwertetes und zugleich sozial umkämpftes Feld begreifen lässt.¹

Sonderfall der Verwertung

Die Ausgangsthese lautet: Der Profifußball ist keine klassische Warenproduktion.² Er bringt kein stoffliches Produkt hervor und erarbeitet keinen originären Mehrwert im Sinne der kapitalistischen Produktionsweise. Seine hohen Erlöspositionen entstehen erst durch eine juristische und institutionelle Konstruktion exklusiver Verfügungsrechte an einem immateriellen Gut – den Ligen und weiteren Wettbewerben – und durch den anschließenden Zugang zum Werbemarkt über Medienrechte. Die Deutsche Fußball Liga (DFL) gilt in diesem Sinne als Eigentümerin des Ligabetriebs im deutschen Herren-Profifußball; sie vergibt Lizenzen, ordnet die Konkurrenz, zentralisiert die Vermarktung und organisiert eine Umverteilung, um ein gewisses Niveau an sportlicher Spannung zu sichern. Dass dies kartellrechtlich zulässig bleibt, ist Ergebnis staatlicher Duldung und spezifischer Regulierungen, ohne die eine Verwertung in dieser Form nicht möglich wäre.

Ökonomisch betrachtet realisiert der Profifußball deshalb in erheblichem Umfang Monopolrenten. Deren Quelle ist weder die »Wertschöpfung« des Spiels selbst noch ein allgemeiner Konkurrenzmarkt, sondern eine staatlich garantierte Eigentumsordnung, die exklusive Nutzung einer gesellschaftlich geschaffenen Attraktivität erlaubt. Medienerlöse und Sponsoring sind die beiden Hauptquellen; beide speisen sich aus zuvor bereits realisiertem Mehrwert anderer Branchen, der in das Fußballfeld umgelenkt wird, um dort – vermittelt über Aufmerksamkeit, Reichweite und Image – weiteres Kapital zu realisieren. In diesem Sinn ist der Fußball ein Sonderfall kapitalistischer Verwertung: Er akkumuliert durch Aneignung und Kanalisierung externer Mehrwertströme, ermöglicht durch Rechtstitel und symbolisches Kapital.

Obwohl der Profifußball beträchtliche Umsätze generiert und für eine hohe Beschäftigung sorgt, bleibt seine ökonomische Struktur eine besondere. Die Verbände und Vereine agieren innerhalb eines Systems, das gesellschaftlich erzeugte Aufmerksamkeit in Eigentumstitel übersetzt. Spielerrechte oder Übertragungslizenzen fungieren hier als Vermögenspositionen, die bilanziell aktiviert und über Vertragslaufzeiten abgeschrieben werden. Sie stellen keinen realen Produktionswert dar, sondern Ansprüche auf zukünftige Einnahmen – eine Form von fiktivem Kapital, das nur durch die institutionelle Ordnung des Fußballs und seine symbolische Knappheit Bestand hat. Der ökonomische Überschuss der Vereine wird in der Regel nicht ausgeschüttet, sondern in neue Transferrechte reinvestiert, wodurch der buchhalterische »Kaderwert« anwächst.

Das Kapital zirkuliert somit weitgehend innerhalb des eigenen Systems: Geld, Rechte und Markenwerte werden fortwährend ineinander übersetzt, ohne dass neue Wertsubstanz entsteht. Diese Bewegung stützt sich auf finanzielle³, rechtliche⁴ und symbolische Kapitalformen⁵, die sich wechselseitig absichern und dadurch ein monopolistisches Gefüge bilden. Die Attraktivität des Fußballs, gesellschaftlich produziert durch das Interesse und die Beteiligung der Massen, wird so zu einer exklusiven Ressource gemacht, deren Nutzung nur unter Aufsicht der Verbände möglich ist. Die ökonomische Stabilität des Systems beruht folglich weniger auf produktiver Leistung als auf der fortgesetzten Kontrolle über Aufmerksamkeit und Rechtstitel.

Politökonomisch greift hier das Zusammenspiel von Markt und Staat. Ohne Urheber- und Markenrechte, ohne die Zuordnung exklusiver Medienrechte, ohne kartellrechtliche Ausnahmen und ohne eine polizeilich-ordnungsrechtliche Rahmung des Veranstaltungswesens könnte die private Aneignung des gesellschaftlichen Guts »Fußball« nicht in dieser Form erfolgen. Der Staat stellt nicht nur einen Rahmen, er erzeugt die Eigentumsordnung, in der der Ligabetrieb als privates Rechtstitelgebilde überhaupt existiert. Damit ist die ökonomische Seite des Spiels nicht vom politischen Überbau zu trennen, im Gegenteil: Sie ist dessen Ergebnis.

Von Beginn an eingehegt

Die gängige Klage über »Kommerzialisierung« verfehlt daher den Kern, solange sie einen ursprünglichen, außergesellschaftlichen »reinen« Fußball unterstellt, der erst später korrumpiert worden sei. Historisch entstand der moderne Fußball, wie die Forschung zeigt, als disziplinierte und bürgerlich regulierte Bewegungspraxis. Die Einhegung vormoderner, lokaler Volksspiele in die englischen Public Schools des 18. und 19. Jahrhunderts war ein Projekt sozialer Kontrolle und Charakterbildung.⁶ Erst mit der Verkürzung der Arbeitszeit und der Herausbildung städtischer Milieus wurde Fußball zur proletarischen Freizeitform, die zunächst Skepsis und Ablehnung der Eliten hervorrief.⁷ Die Disziplinierung der Körper, die Normierung der Regeln und die Einbettung in Verbandsstrukturen bildeten die Voraussetzung dafür, dass das Spiel im 20. Jahrhundert zu einem zentralen kulturellen Feld werden konnte.

Auf der Ebene der Bewegungspraxis ist Fußball keine anthropologische Konstante, sondern historisch geformt. Kurt Meinel weist darauf hin, dass menschliche Motorik sich in Abhängigkeit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen herausbildet.⁸ Andrzej Wohl betont entsprechend, der Sport sei Resultat und Ausdruck bürgerlicher Gesellschaftsentwicklung: Leistungsstreben und Rekordorientierung spiegeln die Erfordernisse der modernen Industrie.⁹ Der moderne Fußball als Wettkampfform ist daher nicht »Natur«, sondern Institutionalisierung und Symbolisierung eines gesellschaftlichen Leistungs- und Konkurrenzprinzips. Er ist Körperkultur und Arbeit an sich selbst – versehen mit Regeln, die die Form des bürgerlichen Zusammenlebens nahelegen.¹⁰

Von hier führt eine Brücke zur Ideologie- und Hegemonietheorie. In der Perspektive Gramscis ist die Zivilgesellschaft bekanntermaßen der Raum, in dem Zustimmung zu einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung hergestellt wird. Der Fußball gehört in dieser Sicht zu jenen kulturellen Apparaten, in denen Herrschaft nicht allein repressiv, sondern als Konsens organisiert wird. Louis Althusser spricht von ideologischen Staatsapparaten, die Individuen als Subjekte anrufen und in bestehende Verhältnisse integrieren.¹¹ Diese Integration erfolgt im Fußball über Rituale, Symbole, nationale und lokale Identitäten sowie über die Einübung von Fairness, Disziplin und Konkurrenz. Dass Verbände und Vereine sich als Träger allgemeiner Interessen präsentieren, gehört zur hegemonialen Formierung – selbst dort, wo sie partikular-ökonomische Ziele verfolgen.

Gegenwehr mit Grenzen

Zugleich ist das Feld nicht widerspruchsfrei. Die Zivilgesellschaft ist bei Gramsci kein ruhiger Raum, sondern das Feld, auf dem um die Hegemonie gekämpft wird. Im Fußball treten Gegenkräfte in Form einer »moralischen Ökonomie« auf die Bühne: In Protesten gegen die Kommerzialisierung artikuliert sich ein kollektiv geteiltes Gerechtigkeitsempfinden, das ökonomische Strategien an sozialen Normen misst.¹² Diese moralische Ökonomie zeigte sich im deutschen Kontext wiederholt: exemplarisch in der Kritik an Montagsspielen, an Ticketpreisen, an einer paneuropäischen Super League und 2023/24 in den ligaweiten Protesten gegen die Investorensuche der DFL.

Die Fankultur, insbesondere die Ultras-Bewegung, bildet eine widersprüchliche Form subalterner Selbstorganisation. Sie verfügt über symbolische, soziale und organisatorische Macht und engagiert sich in Arbeitsfeldern, die von Choreographien bis hin zu Sozialprojekten reichen. Zugleich bleibt ihr ökonomisches Gewicht begrenzt: Sie verfügt kaum über marktwirtschaftliche Machtmittel und wirkt daher primär diskursiv-symbolisch. Aktionen wie »12:12« zur Ablehnung eines bundesweiten Sicherheitskonzepts oder die aktuelle Kampagne »Strafen zünden nicht – Verbandsstrafen abschaffen!« zeigen diese Spannung; sie markieren die Möglichkeit von Gegenmacht, allerdings innerhalb der Verbandsordnung, die Integrationstendenzen ausbildet.¹³

Die aktuelle Konstellation der Eigentumsfrage im Fußball lässt sich als privatisiertes Gemeingut beschreiben. Der Fußball wird in der Öffentlichkeit als common inszeniert – als Kulturgut der Vielen. Die Verfügungsrechte liegen jedoch bei wenigen Akteuren innerhalb der nationalen und internationalen Verbände. Diese Inszenierung erzeugt Legitimität für Monopolrenten, deren Höhe sich eben nicht aus Produktionskosten, sondern aus Zahlungsbereitschaft und Exklusivität ergibt. Die moralischen Begründungen – »Wettbewerbsfähigkeit sichern«, »Tradition bewahren«, »Sicherheit garantieren« – fungieren als ideologischer Kitt einer Ordnung, die gesellschaftlich Produziertes privatrechtlich aneignet.

Historisch zeigt sich diese Dialektik in Krisenmomenten. Als die Insolvenz von Kirch Sport zu Beginn der 2000er Jahre das System der TV-Vermarktung erschütterte, griff die Bundesregierung mit einem Rettungsfonds ein; parallel wurden Kosten stark gesenkt, die Stadien füllten sich dennoch auf Rekordniveau. Das verweist auf den doppelten Charakter des Fußballfeldes: Es ist ökonomisch abhängig von externen Kapitalflüssen und politischer Sicherung und zugleich kulturell robust, weil es in alltäglichen Praktiken der Menschen verankert ist.

Gesellschaftlicher Mikrokosmos

Im Lichte der Politökonomie folgt daraus zweierlei. Erstens: Die kapitalistische Verwertung im Fußball ist auf soziale Voraussetzungen angewiesen, die sie selbst nicht produzieren kann – Leidenschaft, Zugehörigkeitsgefühl usw. Diese werden in Werthaltigkeit übersetzt, ohne im engeren Sinn an der Stätte der Mehrwertproduktion entstanden zu sein. Zweitens: Gerade weil der Fußball auf diese sozialen Energien angewiesen ist, bleibt er anfällig für Legitimationskrisen. Wenn öffentlich demonstrative Demut und versprochene Reformen – etwa in der Pandemie – von einem raschen Return zu investitionsgetriebenen Strategien abgelöst werden, entsteht Vertrauensverlust. Das moralische Geltungsbedürfnis des Feldes ist strukturell, nicht nur kommunikativ.

Analytisch eröffnet der Fußball den Blick auf Grenzen kapitalistischer Vergesellschaftung: Das Kapital kann kulturelle Praxis nicht aus sich heraus erzeugen; es ist auf bereits vorhandene soziale Formen angewiesen, die es aneignet und verwertet. Politisch verweist das Feld auf die Rolle zivilgesellschaftlicher Kämpfe: Dort, wo Fankultur kollektive Fähigkeiten (Organisation, Solidarität, Selbstverwaltung) entwickelt, entstehen Potentiale einer Gegenhegemonie, die nicht außerhalb, sondern innerhalb der bestehenden Ordnung operiert. Diese Potentiale sind prekär und widersprüchlich, aber real.

Der Fußball ist damit weder bloße Ablenkung noch reine Herrschaftsmaschine. Er ist ein gesellschaftlicher Mikrokosmos, in dem sich die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft in verdichteter Form zeigen: Gemeinschaft und Privateigentum, Vergnügen und Disziplin, Kollektivität und Konkurrenz. Der Profifußball organisiert die Veräußerung einer gesellschaftlichen Erfahrung, deren Attraktivität aus kollektiver Praxis besteht. Seine Ökonomie basiert auf Monopolrechten, sein kulturelles Gewicht auf der Alltäglichkeit des Spiels, seine politische Stabilität auf der Verbindung von Recht, Markt und Ideologie.

Wer den Fußball verstehen will, muss diese Einheit denken: die Verknüpfung von ökonomischer Verwertung, staatlicher Regulation und kultureller Praxis. In diesem Sinne ist der Fußball eine konkrete Erscheinungsform kapitalistischer Totalität – anschaulich, massenhaft und umkämpft. Die jüngsten Proteste deuten darauf hin, dass das Feld nicht statisch ist. In ihm werden Grenzen der Verwertbarkeit sichtbar, weil sich kulturelle Loyalität nicht beliebig in Zahlungsbereitschaft übersetzen lässt. Und in ihm lassen sich Kompetenzen kollektiven Handelns erlernen, die über das Stadion hinausweisen.

Fußball ist damit nicht nur Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern ein Terrain, auf dem sich Klassenverhältnisse in kultureller Form artikulieren. Seine soziale Basis liegt historisch in der arbeitenden Klasse. Die frühen Arbeitersportbewegungen des 20. Jahrhunderts verstanden den Sport als Teil kollektiver Selbstbildung und als Gegenentwurf zur bürgerlichen Disziplinierung. Unter den Bedingungen des Kapitalismus blieb der Fußball zugleich Medium sozialer Kontrolle und Ausdruck proletarischer Vergemeinschaftung. Diese doppelte Prägung hat sich in der modernen Fankultur erhalten: Auch wenn der organisierte Arbeitersport verschwand, blieben seine kulturellen Muster und Werte – Solidarität, Gleichheit, Selbstorganisation – in Gestalt der von Ultras geprägten Kurvenkultur bestehen.

Klasseninstinkt

Nicos Poulantzas beschreibt – sich dabei auf Lenin berufend – den »Klasseninstinkt« als jene unbewusste, aus den materiellen Lebensbedingungen der Lohnabhängigen hervorgehende Orientierung, die gesellschaftliche Widersprüche intuitiv wahrnimmt, noch bevor sie theoretisch gefasst werden.¹⁴ Klasseninstinkt ist kein fertiges Bewusstsein, sondern ein Ensemble praktischer Erfahrungen, das auf Konflikte reagiert und in kollektive Handlungen übersetzt wird. Im Fußball zeigt sich dieser Instinkt in Formen spontaner Solidarität, in der Ablehnung von Entfremdung und in der moralischen Verteidigung des Spiels als gemeinschaftliches Gut. Wenn Fans gegen Montagsspiele, Investoren oder Verbandssanktionen protestieren, reagieren sie auf die Wahrnehmung eines gesellschaftlichen Unrechts, das in ihrer konkreten Lebenswelt sichtbar wird: die Aneignung eines kulturellen Feldes durch ökonomische Interessen.

Diese spontane Kritik bleibt ambivalent. Sie ist nicht notwendig revolutionär, wohl aber Ausdruck einer sozialen Wahrnehmung, die der Logik kapitalistischer Verwertung misstraut. Solche Formen von Bewusstsein entstehen nicht abstrakt, sondern aus alltäglichen Erfahrungen und kollektiven Praktiken. Sie verdichten sich dort, wo Menschen ihre Lebenszusammenhänge gemeinsam organisieren, Konflikte austragen und moralische Maßstäbe gegenüber ökonomischem Kalkül behaupten. Auch im Fußball lassen sich solche »organisch« gewachsenen Bewusstseinsformen beobachten: in der Selbstverwaltung, in solidarischen Netzwerken oder in der Kritik an Repression und Vereinspolitik. Diese Praktiken können als Elemente einer subalternen Gegenhegemonie gelten – nicht, weil sie ein fertiges politisches Programm formulierten, sondern weil sie die herrschenden Formen von Eigentum, Ordnung und Autorität praktisch in Frage stellen.

In »Matchplan Meuterei« wird der Gedanke aufgenommen, dass die Kurve ein Raum kollektiver Aneignung ist, in dem kulturelle Fähigkeiten entstehen, die über den Fußball hinausweisen: Organisation, Selbstdisziplin, soziale Verantwortung. Diese Fähigkeiten reproduzieren jene kollektiven Eigenschaften, die auch in der Geschichte der Arbeiterbewegung zentral waren. Im Unterschied zu den formell klar organisierten Vereinen von Arbeiterinnen und Arbeitern früherer Jahrzehnte wirken die Ultras als Netzwerke, die ihre Autonomie im Spannungsfeld zwischen Markt, Verein und Staat behaupten. Gerade diese prekäre Autonomie macht sie zu einem sozialen Labor kollektiver Praxis. In ihr verbinden sich Affekt, Gemeinschaft und politisches Moment – eine Konstellation, die für marxistische Theorie deshalb interessant ist, weil sie zeigt, wie Klassenpraxis auch in kulturellen Formen überlebt.

Der Begriff des Klasseninstinkts erlaubt, diese Praktiken nicht moralisch, sondern materialistisch zu deuten. Er verweist darauf, dass im Alltagsverhalten von Fankultur gesellschaftliche Strukturen fortwirken, die aus der Stellung der Lohnabhängigen im Produktionsprozess resultieren. Viele aktive Fans sind Arbeiterinnen und Arbeiter, Auszubildende oder Studierende in prekären Lebenslagen. Ihre Kritik an der Kommerzialisierung ist nicht bloß kulturelle Nostalgie, sondern Ausdruck realer Interessengegensätze: zwischen der sozialen Erfahrung des Mangels und der Überfülle der kapitalistischen Fußballindustrie. Wo Fankultur Formen kollektiver Selbstorganisation entwickelt, wird ein Stück gesellschaftliche Praxis reproduziert, das den Prinzipien des Marktes widerspricht.

In dieser Hinsicht kann der Fußball als konkretes Feld des Klassenkampfs verstanden werden: nicht als Austragungsort eines bewussten politischen Programms, sondern als Terrain, auf dem Klassenverhältnisse sinnlich erfahrbar und verhandelbar werden. Wie Marx festhielt, findet der Klassenkampf nicht nur an der ökonomischen Grundlage einer Gesellschaft statt, sondern durch alle Formen gesellschaftlicher Beziehungen hindurch.¹⁵ Die Stadien sind Orte, an denen sich dieser Zusammenhang beobachten lässt – in den Konflikten um Preise, Eigentum, Zugang, Sicherheit, Sprache und Symbolik.

Der Klasseninstinkt der Fankultur stellt somit eine schwache, aber reale Form von Gegenmacht dar. Er ersetzt keine organisierte Bewegung, kann jedoch deren affektive und soziale Voraussetzungen schaffen. In ihm wirkt fort, was die Arbeiterbewegung historisch auszeichnete: das Bewusstsein, dass kollektive Erfahrung nicht käuflich ist und dass Solidarität ein gesellschaftlicher Wert jenseits des Marktes bleibt. Wenn sich diese Haltung in Protesten, in selbstverwalteten Räumen oder in der symbolischen Verteidigung des Spiels gegen seine Verwertung artikuliert, dann zeigt sich, dass der Fußball mehr ist als ein Freizeitphänomen. Er ist eine Schule gesellschaftlicher Erfahrung, in der Klassenverhältnisse nicht nur abgebildet, sondern auch in Frage gestellt werden.

Anmerkungen

1 Raphael Molter/Lara Schauland: Matchplan Meuterei. Fans zwischen Kommerz und Widerstand. Köln 2025, S. 15

2 Zu den hier vorgetragenen Überlegungen politökonomischer Natur unbedingt lesenswert: Rainer Bohn: Unhaltbar. Die politische Ökonomie des Profi-Fußballs und verbreitete Irrtümer darüber. In: Z. Marxistische Erneuerung, Heft 143, S. 130–145

3 Gemeint sind Geld- und Finanzströme in Form von TV-Verträgen, Sponsoring, Investorenkapital, Spielertransfers etc.

4 Eigentums- und Nutzungsrechte: unter anderem Lizenzrechte der DFL, UEFA und FIFA, Markenrechte der Vereine, Übertragungsrechte, Transferrechte an Spielern, Stadionnutzungsrechte.

5 Kulturell und ideologisch erzeugte Werte wie Markenimage, Vereinsidentität, Fanloyalität, historische Traditionen, öffentliche Aufmerksamkeit und anderes.

6 Vgl. Norbert Elias/Eric Dunning: Sport im Zivilisationsprozeß: Studien zur Figurationssoziologie. Münster 1984

7 Vgl. William J. Baker: The Making of a Working-Class Football Culture in Victorian England, aus Journal of Social History 13 (2), S. 241–251

8 Kurt Meinel: Bewegungslehre: Abriß einer Theorie der sportlichen Motorik unter pädagogischem Aspekt. Berlin (Ost) 1975

9 Andrzej Wohl: Die gesellschaftlich-historischen Grundlagen des bürgerlichen Sports. Köln 1973

10 Bero Rigauer: Sport und Arbeit: Soziologische Zusammenhänge und ideologische Implikationen. Frankfurt am Main 1969; Gerhard Vinnai: Fußballsport als Ideologie. Hamburg 1970

11 Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Hamburg 2019, S. 58 f.

12 Vgl. E. P. Thompson: The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century. In: Past and Present 50 (1), S. 76–136

13 Vgl. Raphael Molter: Friede den Kurven, Krieg den Verbänden. Fußball, Fans und Funktionäre: Eine Herrschaftskritik. Köln 2022, S. 110–190

14 Nicos Poulantzas: Klassen im Kapitalismus – heute. Hamburg 1975, S. 16 f.

15 Vgl. MEW, Bd. 13, S. 8 f.

Mehr zum Thema im neu erschienenen Buch von Raphael Molter und Lara Schauland: Matchplan Meuterei. Fußballfans zwischen Kommerz und Widerstand. Papyrossa-Verlag, Köln 2025, 212 Seiten

Raphael Molter schrieb an dieser Stelle zuletzt am 12. Februar 2025 zusammen mit Mathias Dehne über die Solidarität vieler Fußballfans mit Palästina: »Antikolonialismus aus der Kurve«

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