Ein gewisses Risiko
Von Gabriel Kuhn
Am kommenden Wochenende beginnt am Rettenbachgletscher bei Sölden in Tirol der alpine Skiweltcup. Seit 25 Jahren wird im Oktober in Sölden die Saison mit einem Riesenslalom für Männer und Frauen eröffnet. Mittlerweile finden die Rennen am letzten und nicht am vorletzten Wochenende des Monats statt, ein Zugeständnis des Internationalen Skiverbandes (FIS) an den Klimawandel. Von dem verfrühten Termin ganz abzulassen ist nicht möglich. Die Skiindustrie will angekurbelt sein, Hotels sind zu buchen und Ski zu verkaufen.
Keine Gelegenheit zur Werbung wird der frühere österreichische Superstar Marcel Hirscher haben. Eine Krankheit macht seinem Comeback II einen Strich durch die Rechnung. 2019 beendete Hirscher seine Karriere nach dem achten Gesamtweltcupsieg in Folge und gründete eine eigene Skifirma. Im Vorjahr trat er unter niederländischer Flagge (seiner Mutter sei Dank) zu Comeback I an. Dieses verlief passabel. Im zweiten Durchgang erzielte der mittlerweile 36jährige die drittbeste Laufzeit und belegte insgesamt Rang 23. Bald darauf riss er sich jedoch im Training das Kreuzband und Comeback I war Geschichte.
Start trotz PTBS
Ein anderes Comeback trug im Vorjahr größere Früchte. Die US-amerikanische Speedkönigin Lindsey Vonn, mit 40 Jahren noch um vier Jahre älter als Hirscher, fuhr beim Saisonfinale in Sun Valley im Super-G als Zweite gar aufs Podest. Sie tritt allerdings nur noch in den Speeddisziplinen an und verzichtet auf den Riesenslalom in Sölden.
Ihre Landsfrau Mikaela Shiffrin tut dies nicht. Im Vorjahr gewann Shiffrin in Sölden, heuer trauen ihr das nur wenige zu. Bei einem Sturz im Weltcupriesenslalom von Killington im November 2024 erlitt Shiffrin eine Stichverletzung im Bauchbereich, was eine posttraumatische Belastungsstörung zur Folge hatte. Zwar gewann sie Anfang 2025 noch zwei Slaloms und knackte die magische Marke von 100 Einzelsiegen im Weltcup, doch im Riesenslalom fuhr sie hinterher. Ihr diesjähriger Auftritt in Sölden wird dennoch mit Spannung erwartet.
Ohne mentale Hemmungen wird Marco Odermatt ins Rennen gehen. Odermatt gewann zuletzt sowohl den Riesenslalomweltcup als auch den Gesamtweltcup der Herren viermal in Folge. Im Vorjahr schied er in Sölden zur Überraschung aller früh aus, trotzdem geht er als Favorit ins diesjährige Rennen. Einer seiner Herausforderer ist Lucas Pinheiro Braathen, auch er ein Rückkehrer der vorigen Saison. Allerdings hatte Braathen nur ein Jahr ausgesetzt, und das nicht altersbedingt. Ein Streit um individuelles Sponsoring veranlasste ihn 2023 dazu, dem norwegischen Verband den Rücken zu kehren. Seit 2024 fährt er für Brasilien, das Geburtsland seiner Mutter. In der Vorsaison reichte es zu fünf Podestplätzen, aber zu keinem Sieg.
Kein Herausforderer für Odermatt wird der Norweger Alexander Steen Olsen sein. Der Vorjahressieger von Sölden fehlt aufgrund anhaltender Knieprobleme. Weitere große Namen müssen wegen Verletzungen passen, darunter die Italienerin Federica Brignone, die im Vorjahr den Gesamtweltcup der Damen gewann. Bei einem eher unbedeutenden Rennen nach Ende der Weltcupsaison zog sie sich mehrfache Frakturen im linken Bein zu. Selbst ihre Teilnahme bei den Olympischen Spielen in Cortina d’Ampezzo im Februar 2026 ist unwahrscheinlich. Auch Aleksander Kilde, der norwegische Lebensgefährte Mikaela Shiffrins, ist nach seinem Horrorsturz im Zielsprung der Abfahrt von Wengen vor eineinhalb Jahren noch nicht fit. Er peilt eine Rückkehr bei den Speedrennen in Beaver Creek im Dezember an.
Carboneinlagen verboten
Verletzungen sind im alpinen Skisport nichts Neues. In den letzten Jahren haben sie sich jedoch gehäuft. Ein enger Weltcupkalender, künstlich vereiste Pisten und Material, das immer engere Radien erlaubt, tun den Gelenken der Rennläufer nichts Gutes. Die FIS greift ein, aber behutsam. Seit dieser Saison sind Carboneinlagen unter den Skischuhen verboten, da sie besondere Fliehkräfte freisetzen. Nicht zuletzt aufgrund des tragischen Unfalls des italienischen Speedfahrers Matteo Franzoso, der im September beim Abfahrtstraining im chilenischen La Parva verstarb, macht das Sicherheitsthema auch vor Sölden nicht Halt. Dort führt der Rückgang des Gletschers dazu, dass der berüchtigte Steilhang immer steiler wird. Gleichzeitig wurden im letzten Teil der Strecke neue Bodenwellen eingebaut, obwohl sie für Topläufer wie den Österreicher Manuel Feller »schon ein gewisses Risiko« in sich bergen. Doch FIS-Renndirektor Markus Waldner will, dass »wir dort auch noch ein bisschen Action haben«.
Die FIS steht in vielerlei Hinsicht in der Kritik. Auch intern rumorte es in den letzten Jahren. Der vor vier Jahren als Quereinsteiger zum Präsidenten gewählte Multimillionär Jonas Eliasch machte sich eine zentrale Vermarktung des alpinen Skiweltcups zum Ziel, was den großen nationalen Verbänden missfiel, die ihre eigenen Werbeverträge abgeschlossen hatten. Elisch setzte sich durch. Ab der Saison 2026/27 gilt ein exklusiver Vertrag mit der Sportagentur Infront. Zufälligerweise hat Infront, genau wie die FIS, ihren Sitz in der Schweiz. Präsident des Unternehmens ist Philippe Blatter, ein Neffe des ehemaligen FIFA-Präsidenten Sepp Blatter. Urs Lehmann, langjähriger Präsident des Schweizer Skiverbandes und einer der größten Kritiker Eliaschs, wurde kurz vor der Unterzeichnung des Vertrages zum Geschäftsführer der FIS ernannt. Ein Deal, wie er Donald Trump gefallen würde.
DSV unsicher
Was ist in Sölden vom deutschen Team zu erwarten? Bei den Damen liegen die Hoffnungen auf der 21jährigen Allrounderin Emma Aicher (SC Mahlstetten), die im Vorjahr bereits eine Abfahrt und einen Super-G gewinnen konnte. Im Riesenslalom ist ein fünfzehnter Platz ihr bisher bestes Weltcupergebnis. Auch die routinierte Slalomspezialistin Lena Dürr (SV Germering) erzielte in den letzten Jahren im Riesenslalom Achtungserfolge. Im Vorjahr wurde sie in Sölden Zehnte.
Bei den Herren soll über das Antreten des erfolgreichsten DSV-Riesenslalomläufers der letzten Jahre, Alexander Schmid (SC Fischen), kurzfristig entschieden werden. Auch Schmid, der sich im Dezember 2024 im Training einen Kreuzbandriss zuzog, gehört zur langen Liste der Verletzten. Anton Grammel (TV Kressbronn) fiel zuletzt durch starke Trainingsleistungen auf, während Hannes Amann (RG Burig Mindelheim) sein erstes Weltcuprennen bestreiten soll. Nicht am Start stehen wird Stefan Luitz (SC Bolsterlang). Der 33jährige Allgäuer, der 2018 den Weltcup-Riesenslalom von Beaver Creek gewann und an diese Leistung nach vielen Verletzungen nie wieder anschließen konnte, hat seine Karriere beendet.
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