One-Man-Show
Von Sören Bär
Mit ihrer Silbermedaille am zweiten Tag der Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Tokio (Japan) bewirkte Weitspringerin Malaika Mihambo viel Gutes: Die 31jährige Heidelbergerin erwies sich als personifizierte Zuverlässigkeit, senkte die Blutdruckwerte der Funktionärsriege des Deutschen Leichtathletikverbandes (DLV) und überzeugte die Öffentlichkeit, dass deutsche Mannschaften nicht komplett als touristische Reisegruppen zu Welttitelkämpfen fahren. Als Mihambo vor zwei Jahren in Budapest wegen eines Muskelfaserrisses nicht starten konnte, blieb das 75 Teilnehmer umfassende DLV-Team medaillenlos – ein Desaster.
2021 hatte Mihambo im selben Stadion mit der olympischen Goldmedaille ihren bisher größten Erfolg gefeiert. Vier Jahre später musste sie sich mit 6,99 Metern wie 2024 bei Olympia in Paris lediglich Tara Davis-Woodhall (USA) beugen, die 7,13 Meter sprang und auch mit ihrem zweitstärksten Versuch von 7,08 Metern gewonnen hätte. Die Kolumbianerin Natalia Linares errang mit 6,92 Meter Bronze. Mihambo avancierte 2019 und 2022 zur Weltmeisterin und gewann seit sieben Jahren bei jeder großen Meisterschaft, an der sie teilnahm, eine Medaille. Ihre Steigerungsfähigkeit – von 6,60 Meter ging es über 6,92 Meter und 6,94 Meter bis auf 6,99 Meter – hätte sie fast zum dritten WM-Titel geführt, doch bei ihrem weitesten Satz im fünften Versuch übertrat sie knapp. Auch der finale Sprung blieb ungültig. »Es war schon schade um die letzten beiden Sprünge, weil die noch einmal richtig gut waren«, äußerte Mihambo im ZDF, konstatierte allerdings auch: »Ich habe wirklich den besten Wettkampf der Saison gemacht.«
Überraschend schürfte auch der 30jährige Amanal Petros (Hannover 96) im Marathonlauf Silber. Nach einer fulminanten Leistung bog Petros als Führender auf die Zielgerade, doch Alphonce Felix Simbu (Tansania) saß ihm im Nacken. Petros blickte sich während des dramatischen Schlussspurts mehrmals nach dem Verfolger um – einmal zu oft, denn Simbu holte ihn ein und lief zeitgleich mit Petros nach 2:09:48 Stunden über die Ziellinie. Ein Novum: Nach 42,195 Kilometern musste erstmals in der Marathon-WM-Geschichte das Zielfoto entscheiden. Simbu lag im Finish um den Wimpernschlag von drei Hundertstelsekunden vorn. Die bronzene Plakette sicherte sich Iliass Aouani (Italien). Der in Assab (Eritrea) geborene Sportsoldat Petros floh im Alter von 16 Jahren aus Äthiopien, wo seine Mutter und seine beiden Schwestern leben, nach Deutschland. Er ist der dritte deutsche WM-Medaillengewinner im Marathon. Waldemar Cierpinski, der legendäre DDR-Doppelolympiasieger von 1976 und 1980, war bei der ersten Leichtathletik-WM 1983 in Helsinki auf Rang drei gelaufen, Katrin Dörre hatte 1991 – ebenfalls in Tokio – Bronze erobert.
Einer Sensation kam die Silbermedaille des 23jährigen Merlin Hummel im Hammerwerfen gleich. Der Kulmbacher beeindruckte gleich im ersten Finaldurchgang mit 82,77 Metern – so weit hatte er noch nie geworfen. Es entwickelte sich ein Dreikampf mit dem Weltjahresbesten Bence Halász (Ungarn) und Ethan Katzberg (Kanada). Halász kam mit 82,69 Metern noch auf acht Zentimeter heran, konnte diese Weite jedoch nicht mehr steigern – Bronze. Katzberg hingegen bot mit 84,70 Metern den fünftweitesten Hammerwurf der Geschichte und sicherte sich verdient Gold. Hummel sah sich »vom Wettkampf im positiven Sinne geschockt«. Sogar mit den im vierten Durchgang erreichten 82,14 Metern lag er noch über seiner vorherigen Bestleistung.
Im Stabhochsprung der Männer sah das Publikum eine Neuauflage der faszinierenden One-Man-Show der letzten Jahre: Der schwedische Ausnahmekönner Armand Duplantis steigerte seinen eigenen Weltrekord mit im dritten Versuch übersprungenen 6,30 Metern auf eine neue Magnitude und gewann zum dritten Mal in Folge WM-Gold. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der zweifache Olympiasieger von Tokio 2021 und Paris 2024 längst allein im Wettbewerb. Der griechische Olympiadritte von Paris Emmanouil Karalis kam mit 6,00 Metern auf Platz zwei ein, während Kurtis Marschall (Australien) und Sam Kendricks (USA) beide 5,95 Meter schafften, doch ein Fehlversuch weniger sicherte Marschall den dritten Rang. Neben 70.000 US-Dollar für den WM-Titel wurde dem 25jährigen Duplantis der neue Weltrekord mit weiteren 100.000 US-Dollar versüßt: »Den Rekord im dritten Versuch zu springen ist ein Extrakick, das ist der pure Spaß!« resümierte er. Wie es Sergej Bubka (Sowjetunion/Ukraine), der vor Duplantis die Disziplin dominierte, vorgemacht hat, steigert Duplantis die Weltbestmarke Zentimeter um Zentimeter. Bo Kanda Lita Baehre (Düsseldorf Athletics) kam mit 5,75 Metern auf Rang zehn, bestätigte seine Saisonbestleistung und befand, dass der Wettkampf ein »unfassbares Niveau« besaß.
Zu dieser Erkenntnis gelangten auch andere deutsche Hoffnungen. Im 100-Meter-Sprint schied Europameisterin Gina Lückenkemper mit passablen 11,11 Sekunden im Halbfinale aus. Melissa Jefferson-Wooden (USA) gewann mit der Fabelzeit von 10,61 Sekunden – nur 12 Hundertstel unter dem Weltrekord von Florence Griffith-Joyner aus dem Jahre 1988 – den Titel vor Tia Clayton (10,76 Sekunden, Jamaika) und Olympiasiegerin Julien Alfred (10,84 Sekunden, Saint Lucia). Noch ärger traf es die deutschen Männer Owen Ansah (10,21 Sekunden) und Lucas Ansah-Peprah (10,25 Sekunden), die schon im Vorlauf aussortiert wurden. Der Jamaikaner Oblique Seville triumphierte in 9,77 Sekunden vor seinem Landsmann Kishane Thompson (9,82 Sekunden) und Titelverteidiger Noah Lyles (9,89 Sekunden, USA) und ließ den jamaikanischen Weltrekordler Usain Bolt auf der Tribüne jubeln.
Kugelstoß-Olympiasiegerin Yemisi Ogunleye (MTG Mannheim) musste sich mit 19,33 Metern und Rang sechs begnügen. Auf das Siegertreppchen gelangten Jessica Schilder (Niederlande) mit 20,29 Metern, Chase Jackson (20,21 Meter, USA) und Maddison-Lee Wesche (20,06 Meter, Neuseeland). Auch Speerwerfer Julian Weber, der das Golden-League-Meeting in Zürich mit 91,51 Metern gewonnen hatte, blieb mit Rang fünf und 86,11 Metern unter seinen Erwartungen. Der WM-Titel wurde in die Karibik entführt: Keshorn Walcott aus Trinidad und Tobago, Olympiasieger 2012, siegte mit 88,16 Metern vor Anderson Peters (87,38 Meter, Grenada) und Curtis Thompson (86,67 Meter, USA). Walcott profitierte dabei von der Unterstützung des besten Speerwurftrainers unserer Tage: Sein 75jähriger Coach Dr. Klaus Bartonietz wurde im sächsischen Bischofswerda geboren und hatte im vergangenen Jahr schon gemeinsam mit dem DDR-Fabelwerfer Uwe Hohn den Inder Neeraj Chopra in Paris zu Olympiagold geführt.
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