»Wir gebären Wissen«
Von Sara Meyer, Bogotá
Sie sind eine von zwei Abgeordneten im CRIC, dem Regionalen Indigenenrat im kolumbianischen Cauca – wie gehen Sie damit um?
Derzeit sind wir nur zwei Frauen inmitten von acht Männern in der obersten Leitung des CRIC. Dabei war die Weitergabe von Wissen und Kultur schon immer Aufgabe der Frauen. Unsere soziale Vernetzung liegt in den Händen der weiblichen Mitglieder. Auch das Wissen der Hebammen gehört dazu. Wie sollen wir einen Samen legen und später etwas ernten, wenn wir die bisherige Arbeit der Frauen nicht schützen?
Gibt es Anerkennung für dieses Wissen?
Heute können wir sagen: Ja, unser Wissen ist mittlerweile anerkannt. Es gibt viele rechtlich bindende Dokumente innerhalb unserer Organisation und auch in anderen Gemeinschaften, die Frauen als Trägerinnen des Wissens akzeptieren. Aber wir müssen vom Papier zur Aktion übergehen. Es wird viel geschrieben, aber nichts umgesetzt, wenn es um Frauenthemen geht. Das ist problematisch. Alle reden über uns, alle mischen sich ein – doch von wechselseitiger Ergänzung zwischen den Geschlechtern kann keine Rede sein.
Wie definieren Sie die Rolle der Frau innerhalb der indigenen Kosmovision?
Man kann uns nicht darauf reduzieren, Kinder zu gebären oder bei der Geburt zu helfen. Wir gebären Wissen. Wir geben Werte weiter. All das machen wir Frauen in unseren Gemeinschaften. Dieses Wissen ist nicht plötzlich entstanden, es wurde von Generation zu Generation durch Frauen weitergegeben. Ich erwarte, dass dieses Wissen nicht nur anerkannt, sondern auch geschätzt und in konkrete Normen umgesetzt wird. Wir wollen, dass unser Wissen gesetzlich geschützt wird, nicht nur innerhalb des CRIC, sondern auch durch internationale Standards. Warum? Weil viele von außen in unsere Territorien kommen, unser Wissen nutzen wollen – aber es gibt kaum Schutz für uns indigene Frauen.
Wie sehen Sie den symbolischen Bezug auf »Mutter Erde« in der Politik?
Es nützt uns nichts, wenn immer wieder gesagt wird, die Erde sei weiblich – Mutter Erde –, wenn gleichzeitig nichts für den Schutz der Frauen unternommen wird. Wir reden und reden, aber wir müssen das Ahnenwissen auch aktiv schützen. Zum Beispiel hätte es beim kürzlich abgehaltenen internationalen Indigenenforum, bei dem Delegierte aus 20 Ländern zusammenkamen, einen Diskussionsraum für indigene Frauen geben sollen – aber es gab ihn nicht. Es wurde nicht über das Wissen der Frauen gesprochen. Wie können wir über den Schutz der Erde und der Umwelt sprechen, wenn wir nicht einmal bei den Frauen anfangen?
Was bedeutet für Sie der Schutz der Erde in diesem Zusammenhang?
Für mich ist der Schutz der Erde nur ganzheitlich zu denken, wenn auch die weibliche Perspektive einbezogen wird. Ich hoffe, dass dieses Thema künftig mehr Raum in politischen Foren bekommt. Über die weibliche Seite zu sprechen, gehört für mich zur Würde der Frauen – aber genauso zur Würde der Männer. Wir sind eine Einheit. Wir gestalten unseren Lebensraum gemeinsam.
Was hat das mit Gewalt zu tun?
Man kann niemals über Frauen sprechen, ohne über Gewalt zu sprechen. Für mich ist die politische Ausgrenzung von Frauen eine Form der Gewalt. Das Ignorieren der weiblichen Perspektive ist Gewalt. Je nach Kosmovision der jeweiligen Gemeinschaft hoffe ich, dass Frauen künftig als Teil der dualen und komplementären Ordnung der indigenen Weltanschauung anerkannt werden. Ich habe immer noch Hoffnung, dass das eines Tages Wirklichkeit wird, ich höre nicht auf, zu hoffen, und erhebe meine Stimme.
Gab es beim internationalen Indigenenforum Austausch mit anderen Frauen?
Ich konnte mich mit indigenen Frauen aus anderen lateinamerikanischen Gemeinschaften austauschen – leider nur mit jenen, die ebenfalls Spanisch oder Nasa sprechen. Uns ist aufgefallen: Keine der Hauptsprechenden auf dem internationalen Forum war eine indigene Frau. In den politischen Panels saßen nur Männer. Die einzigen Frauen, die auf der Bühne diskutierten, kamen von der International Land Coalition (ILC), aus den USA und Europa, nicht aber aus indigenen Gemeinschaften.
Natürlich ist es wichtig, dass man auch die männlichen Stimmen hört. Aber wenn wir über die Zukunft der Erde sprechen, sollten auch weibliche Stimmen zu Wort kommen. Es gibt indigene Frauen, die das nicht stört und die sagen, es gehe um die Sache, nicht ums Geschlecht. Für mich ist das anders. Ich empfinde es als Stigmatisierung und Diskriminierung, wenn wir aus solchen Debatten ausgeschlossen werden. Ich wünsche mir gleiche Redeanteile für beide Geschlechter, besonders auf politischen Foren wie diesem.
Sprechen wir hier nur von interner Diskriminierung?
Nein, das Problem geht weit über unsere eigenen Gemeinschaften hinaus. Mir ist aufgefallen, dass wir Indigenen weltweit – und ebenso die afrostämmigen Völker – mit denselben Herausforderungen kämpfen: Fremdbestimmung und fehlende Selbstverwaltung. Das ist es, was uns als sogenannte ethnische Gruppen oder »Minderheiten« auszeichnet. Für mich beginnt Diskriminierung schon bei diesen Begriffen.
Was wäre nötig für echte Unabhängigkeit?
Wir müssen unter den Gesetzen der Mehrheitsgesellschaft leben. Unsere eigene indigene Regierung und Führung wird dabei klein gemacht. Ich glaube, das hat mit unserer Angst zu tun, uns echte Autonomie zuzugestehen. Doch wenn wir keine eigene Führung im Namen unserer Kosmovision übernehmen, bleiben wir für immer untergeordnet und leben nach Regeln, die nicht unserer Denkweise entsprechen.
Wie wichtig ist Selbstversorgung in diesem Zusammenhang?
Für unsere Unabhängigkeit ist auch die Versorgung mit Lebensmitteln entscheidend. Das betrifft direkt unsere Gesundheit. Wir wollen ein System schaffen, in dem unsere eigene indigene Wirtschaft zirkulieren kann. Damit haben wir Frauen schon begonnen, gemeinsam mit der Jugend und den Männern. In unseren Territorien gibt es viele Projekte. Doch uns fehlt noch der Zugang zu externen Märkten. Oft kommen Händler von außerhalb, kaufen unsere Produkte günstig ein und verkaufen sie teuer weiter – nicht nur Früchte wie Erdbeeren, sondern vor allem unsere handwerklichen Produkte.
Diese werden größtenteils von indigenen Frauen hergestellt und dann in der Stadt teuer verkauft. Wir wollen zurück zu unseren eigenen Handelsformen, zum Trueque – dem Tauschhandel. Wir sollten nicht weiter auf Milch und Hühnerfleisch aus dem Supermarkt setzen, nur weil es billiger ist. Statt dessen sollten wir unsere eigenen Produkte fördern und so ein autonomes Wirtschaftssystem stärken, das uns als indigene Gemeinschaften verbindet.
Was bedeutet das für die Medizin und den Schutz traditionellen Wissens?
Unser Ahnenwissen steht im Einklang mit der Erde. Wenn wir uns darauf zurückbesinnen, können wir im Einklang mit der Natur leben. Ich spreche hier auch von unserer pflanzlichen Medizin: Wenn eine neue Krankheit auftritt, haben wir in unserer Tradition meist schon ein Heilmittel. Genau dieses Wissen interessiert die großen Pharmakonzerne. Deshalb müssen wir uns auch gegen den Diebstahl unseres Wissens schützen.
Wir produzieren bereits unsere eigenen Medikamente und tauschen sie zwischen Gemeinschaften aus. Immer öfter verkaufen wir sie auch an Nichtindigene – zum Beispiel Schmerzmittel auf pflanzlicher Basis. Aber es ist schwer, dafür offizielle Verkaufserlaubnisse zu bekommen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Wir beobachten, dass sich die Welt wieder auf Natur und »Entgiftung« besinnt. Viele entdecken gerade, wie wertvoll unsere Lebensweise ist. Wir sollten als Menschheit zusammenarbeiten – nicht gegeneinander. Männer und Frauen zusammen.
Nelly Yule ist Abgeordnete im mehrheitlich männlich angeführten Regionalen Indigenenrat von Cauca (CRIC) der Nasa-Gemeinschaft im Südwesten Kolumbiens. Eine Consejera bzw. ein Consejero im CRIC ist ein gewähltes Mitglied in der kollektiven Leitungsebene. Die Person wird von den indigenen Gemeinschaften bestimmt und vertritt diese in ihrem Streben nach territorialer, politischer, wirtschaftlicher, bildungsbezogener und gesundheitlicher Autonomie sowie in der Ausübung ihres eigenen Rechts
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