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Aus: Ausgabe vom 12.07.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Philosophie

»Wir brauchen einen ökologischen Marxismus«

Der Mensch in der Natur, die Natur im Menschen: Marx hatte fruchtbare Ansätze für einen Ökosozialismus. Ein Gespräch mit Jan Rehmann
Von Max Grigutsch
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Ein Riss im Stoffwechsel: Der Tagebau Garzweiler II dort, wo vorher die Siedlung Lützerath war (14.1.2023)

Sie schreiben den Beitrag zum Thema »Ökomarxismus« für das »Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus«. Der nächste Band wird gleich mehrere Einträge zum Thema Ökologie enthalten. Warum diese Schwerpunktsetzung?

Dass wir inmitten lebensbedrohlicher ökologischer Krisen leben, brauche ich nicht näher zu begründen. Von den neun »planetarischen Grenzen« haben wir bereits fünf bis sechs überschritten. Ein Marxismus ohne die Ökologie an zentraler Stelle ist also nicht realitätstauglich, auch wenn das in der marxistischen Tradition oft nicht gesehen wurde. Ein Beweggrund liegt aber auch in meiner eigenen politischen Erfahrung, dass Marxismus und Ökologiebewegung in den 1970er und 1980er Jahren und auch danach nicht zusammengefunden haben. Das hat zum Hegemonieverlust des Marxismus beigetragen. Man kann das etwa daran ablesen, dass die vom Club of Rome 1972 veröffentlichte Studie »Grenzen des Wachstums« von den Hauptrichtungen des Marxismus in Ost und West pauschal zurückgewiesen wurde. Sicherlich gab es auch kluge marxistische Überlegungen zur Ökologiefrage, sowohl im Westen, zum Beispiel im Umkreis der Kritischen Theorie, als auch im Osten, zum Beispiel 1966 im sogenannten Richta-Report oder auch in Wolfgang Harichs »Kommunismus ohne Wachstum?« von 1975. Aber das waren eher Ausnahmen. Die Herausbildung eines Ökomarxismus ab den 1980er und 1990er Jahren kann als verspätete Reaktion auf dieses Rendez-vous manqué angesehen werden und stellt insofern eine überfällige Selbstkritik dar.

Der Begriff Ökomarxismus beinhaltet ja die Annahme, dass Marx überhaupt relevante Einsichten zur Ökologie bereithält.

Der frühe Marx verstand sich ausdrücklich als Naturalist. Nur der Naturalismus sei fähig, »den Akt der Weltgeschichte zu begreifen«, heißt es in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« von 1844. Die Entgegensetzung von Mensch und Natur, die ihm oft unterstellt wird, ist für ihn das Ergebnis kapitalistischer Entfremdung. Dagegen entwickelt er die Perspektive eines Kommunismus als Zusammenfallen von Naturalismus und Humanismus, von Menschheit und Natur. Erst im Kommunismus komme es zur Resurrektion der Natur. Das ist die romantische Sprache eines 26jährigen Philosophen, aber sein dialektischer Naturalismus ist auch in seinem Spätwerk noch deutlich.

Wie drückt sich das beim späten Marx aus?

In den Vorbereitungen zum »Kapital« greift Marx aus der Naturwissenschaft, vor allem vom deutschen Chemiker Justus von Liebig, den Begriff des Stoffwechsels auf und bezieht ihn auf das Verhältnis zwischen Menschen und nichtmenschlicher Natur, das vornehmlich über die Arbeit vermittelt ist. Er formuliert den berühmten Vergleich zwischen der Biene, die eine perfekte Wabe baut, und dem schlechtesten menschlichen Baumeister, der das Ergebnis seiner Arbeit schon vorab im Kopf hat und sich durch die Fähigkeiten der Antizipation, zielgerichteten Planung und bewussten Kooperation auszeichnet. Das ist von vielen als anthropozentrische Entgegensetzung von Mensch und Natur kritisiert worden. Aber wenn man sich die einschlägigen Textstellen im »Kapital« anschaut, sieht man, dass Natur auf allen Seiten der Mensch-Natur-Dialektik zu finden ist. Auch der Mensch ist eine Naturmacht, seine Arme, Beine, sein Kopf sind Naturkräfte, die er einsetzt. Selbst die spezifischen Fähigkeiten der langfristigen Antizipation und gezielten Planung gehören zur Natur des Menschen – sie haben sich als Ergebnis der biologischen Evolution herausgebildet. Die dialektische Herausforderung besteht darin, die beiden Seiten dieser Beziehung zusammenzudenken: dass wir Menschen nicht außerhalb der Natur stehen, sondern Naturwesen sind, und dass wir als menschliche Naturwesen spezifische Gattungseigenschaften entwickelt haben.

Manche Theorieströmungen werfen Marx vor, anthropozentrisch an einer herausgehobenen Sonderstellung des Menschen festzuhalten.

Spezifische Merkmale der Menschheit festzustellen ist nicht dasselbe, wie ihre Höherstellung zu postulieren. Die von Marx dargestellte Dialektik wird auch innerhalb des Ökomarxismus unterschiedlich ausgelegt. Der Weltökologie-Ansatz von Jason Moore betont besonders das Ineinander von Menschen und nichtmenschlicher Natur im sogenannten Lebensnetz. Wolfdietrich Schmied Kowarzik prägte die Metapher eines doppelten Übergreifens: Zum einen ist die menschliche Arbeit das Übergreifende über die Natur, zum anderen ist sie in die Natur eingebunden und wird von der Natur übergriffen. Wolfgang Fritz Haug konkretisiert das dahingehend, dass die Natur das »umfassend Übergreifende«, der Mensch das »initiativ Übergreifende« ist – in diesem Sinne ist dieses wechselseitige Übergreifen asymmetrisch. Das offenbart eine grundlegende Ambivalenz der menschlichen Existenz. Die enorme Produktivität der menschlichen Arbeit kann sich im Rahmen einer zerstörerischen instrumentellen Vernunft betätigen, wie Horkheimer und Adorno betonten. Produktivkräfte können in Destruktivkräfte umschlagen, und dies auch schon vor dem Kapitalismus.

Aber es war ja der Kapitalismus, der sowohl die Produktivkräfte als auch die Destruktivkräfte in einem unbekannten Ausmaß entwickelt hat. Inwieweit konnte Marx das im 19. Jahrhundert überhaupt wahrnehmen?

Es gibt vieles, was Marx und Engels noch nicht wahrgenommen haben. Im »Kapital« analysiert Marx in erster Linie die zerstörerischen Auswirkungen der Ausbeutung auf die Arbeiterklasse. Aber in einem Bereich, nämlich dem der modernen Landwirtschaft, nimmt er sehr genau wahr, dass der Kapitalismus die Springquellen alles Reichtums untergräbt, nämlich den Arbeiter und die Erde. Hier stellt er also die kapitalistische Zerstörung beider auf eine Stufe. Er sieht, dass die kapitalistische Landwirtschaft »einen unheilbaren Riss« im Stoffwechsel erzeugt. Dies ist der Ausgangspunkt der wohl einflussreichsten ökomarxistischen Schule, der sogenannten Metabolic Rift School um John B. Foster, Paul Burkett und anderen, die argumentieren, dass dieser Stoffwechselriss nicht nur die Nährstoffe der kapitalistisch übernutzten Erde betrifft, sondern beispielsweise auch den Kohlenstoffkreislauf.

Hat Marx selbst denn die Perspektive eines ökologischen Sozialismus entwickelt?

Ein Gesamtmodell eines ökologischen Sozialismus hat er nicht entwickelt. Aber wenn er etwa eine rationelle Behandlung des Bodens fordert, dann ist das ein Gegenbegriff zur Ausbeutung der Bodenkräfte – gemeint ist eine nachhaltige Landwirtschaft, die mit den gesamten Lebensbedingungen »der sich verkettenden Menschengenerationen« zu wirtschaften hat. Nicht einmal eine ganze Gesellschaft sei Eigentümerin der Erde, sondern nur Nutznießerin mit dem Auftrag, sie »den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen«, schreibt Marx. Hier wird also nicht nur das kapitalistische Privateigentum, sondern jeder Eigentumsbegriff als Verfügungsgewalt in Frage gestellt. Es ist bedeutsam, dass der späte Marx nicht mehr von der Herrschaft über die Natur spricht, sondern davon, dass die assoziierten Produzenten ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln. Das ist etwas ganz anderes. Es bezieht sich auf das, was wir tatsächlich nachhaltig regulieren können, nämlich unseren Stoffwechsel mit der Natur.

Der japanische Philosoph Kohei Saito hat Marx einen Degrowth-Kommunismus attestiert. Was ist da dran?

Saito bezieht sich auf die naturwissenschaftlichen und ethnologischen Exzerpte, die Marx nach der Veröffentlichung des ersten »Kapital«-Bands gemacht hat. Und tatsächlich zeigen seine umfangreichen Notizen zu Carl Nikolaus Fraas und Georg Maurer sowie die Briefentwürfe an Wera Sassulitsch ein Interesse an vorkapitalistischen Genossenschaften, die ein Allmendesystem mit nachhaltiger Bodenbewirtschaftung kombinierten. Allerdings halte ich Saitos Schlussfolgerung, der späte Marx sei ein Postwachstumskommunist gewesen und habe einen Bruch mit dem historischen Materialismus vollzogen, für nicht haltbar. Sicherlich hat es bei Marx Tendenzen gegeben, die man aus heutiger Sicht als fortschrittsoptimistisch problematisieren kann. Aber es wäre verfehlt, diese Tendenzen mit der Methode des historischen Materialismus im Ganzen gleichzusetzen.

Sind Begriffe wie »Degrowth« überhaupt eine geeignete Orientierung für die ökologischen Kämpfe von heute?

Ich finde das Schlagwort ungeeignet, weil es zu sehr auf die quantitative Problematik fixiert und gerade bei den Lohnabhängigen nicht hegemoniefähig ist. In den zugrundeliegenden inhaltlichen Analysen wird in der Regel betont, dass es nicht um Degrowth allgemein geht, sondern um eine grundlegende Umorientierung der Wirtschaft vom kapitalistischen Akkumulationsprinzip und Konsumismus zur Herstellung nachhaltiger Gebrauchsgüter für alle. Und das trifft sich ja mit einem marxistischen Gebrauchswertstandpunkt. Es ist auch unbestreitbar, dass eine Verringerung des biophysikalischen Durchsatzes von Materialien und Energieflüssen vor allem im globalen Norden dringend erforderlich ist. Nur müssen die Degrowth-Theoretiker oft große Mühen auf sich nehmen, um zu erklären, dass sie nicht meinen, was das Schlagwort suggeriert. Eine ökosozialistische Strategie sollte sich auf eine klassenpolitische Mobilisierung der Ökologiefrage konzentrieren, die ökonomische und ökologische Forderungen auf überzeugende Weise verbindet, wie dies kürzlich beim Wahlsieg von Zohran Mamdani bei den Vorwahlen der Demokraten in New York gelungen ist.

Das ist ein bemerkenswerter, aber doch kleiner Sieg eines linken Sozialdemokraten. Andererseits sehen wir einen globalen Rechtsruck und zunehmende Kriegstreiberei, während die Ökologiefrage selbst bei Linken in den Hintergrund rückt.

Ja, die Herrschaft des Kapitals bedeutet zunehmend die Bedrohung der menschlichen Existenz und der Biosphäre. Andreas Malm und das Zetkin-Kollektiv diagnostizieren die Tendenz eines Fossilfaschismus, bei dem sich das Fossilkapital mit der Rechten verbündet. Ein Beispiel ist die Trump-Regierung, die offenbar entschieden hat, den Systemkonflikt mit China nicht mehr im Bereich einer ökologischen Modernisierung zu führen, sondern ganz auf den Ausbau der Fossil- und Atomenergie zu setzen. Die Satellitenprogramme und andere Hightech- und KI-Projekte haben einen riesigen Energiebedarf und sind eng mit dem Fossilkapital und der Atomkraftlobby verflochten. Gegenüber der Bereitschaft herrschender kapitalistischer Klassenfraktionen, die Erde und ihre Lebewesen durch Kriege und Klimaerhitzung regelrecht zu verbrennen, brauchen wir einen ökologischen Marxismus, der die Befreiung der arbeitenden Menschen mit dem Überleben der menschlichen Gattung und der Biosphäre verbindet.

Ein Marxismus ohne Ökologie ist realitätsfern. Aber für viele Klimaaktivisten ist ja keineswegs klar, warum die Ökologie überhaupt den Marxismus brauchen sollte.

Kein anderer theoretischer Ansatz zeigt so systematisch und so umfassend, wie in der Tiefenstruktur unserer Gesellschaft ein grenzenloser Akkumulationstrieb herrscht, der immer mehr in Gegensatz gerät zu den Grenzen der natürlichen Ressourcen und Kreisläufe. Dieser Trieb ist zu einer Art Todestrieb geworden. Konsumkritik allein kann den Zusammenhang von Produktions- und Konsumnormen nicht erfassen.

Der Philosoph Jan Rehmann ist Visiting Professor am Union Theological Seminary, New York, Privatdozent am Philosophischen Institut der Freien Universität Berlin und Redakteur des »Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus«

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