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Aus: Ausgabe vom 09.07.2025, Seite 12 / Thema
Literaturgeschichte

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Grauen mit positivem Ausblick im Dienste des Antifaschismus. Vom Leiden deutscher Soldaten. Theodor Plieviers Roman »Stalingrad« (Teil 1 von 2)
Von Kai Köhler
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Der Krieg als Anhäufung von Leiden. Halberfrorene deutsche Soldaten ergeben sich 1943 in Stalingrad

Am 14. Juni 2025 veranstaltete die Marx-Engels-Stiftung in Stuttgart die Tagung »Kunst gegen den Krieg: Thema Stalingrad«. Der folgende Artikel hat den dort von Kai Köhler gehaltenen Vortrag über Theodor Plieviers Roman »Stalingrad« zur Grundlage. (jW)

Theodor Plieviers Roman »Stalingrad«, geschrieben im sowjetischen Exil, war nach der Niederlage des deutschen Faschismus 1945 ein wichtiges und einflussreiches Buch. Später allerdings begab sich der Autor in den Westen und erweiterte das Werk mit »Berlin« und »Moskau« zu einer Trilogie. Hier nun erwies er sich als Propagandist des Kalten Kriegs, mit sogar rassistischem Einschlag.

Hermann Kant empfahl 1984 im Nachwort zu einer DDR-Neuausgabe von »Stalingrad«, man solle den wertvollen ersten Band der Trilogie »abschotten« gegen die späteren »schlimmen Machwerke«. Daran ist richtig, dass intellektuelle Entwicklungen nicht zwangsläufig sind, sondern beeinflusst durch individuelle Erlebnisse, gesellschaftliche Kräfte und nicht zuletzt leider oft die Frage, wer zahlt. Ist aber nicht andererseits das Hirn eines 51jährigen, das »Stalingrad« ausdachte, nicht bereits so festgelegt, dass der 62jährige Autor von »Berlin« kein völlig neuer Mensch sein kann? Auf eine allgemeinere Ebene gehoben lautet die Frage: Weist Plieviers in der Lage von 1945 sehr wirksamer Antifaschismus Bruchstellen auf, die in seiner Wendung gegen den Sozialismus deutlich wurden? Doch zunächst zur Inhaltsebene des Romans, der für den deutschen Blick auf diese für den Zweiten Weltkrieg so wichtige Schlacht bedeutsam wurde und sogar noch für Joseph Vilsmaiers Stalingrad-Film von 1993 zentrale Motive bereitstellte.

Der Erzählrahmen

Das Buch setzt im November 1942 an, und zwar bei einer Strafeinheit, die Gefallene – oder was von ihnen übrig ist – unter Beschuss zu Massengräbern zu tragen hat. Unter ihnen ist der ehemalige Unteroffizier Gnotke, der sich allmählich als eine der beiden Hauptfiguren des Romans herausstellt. Am gleichen Frontabschnitt befindet sich der Oberst Vilshofen, später zum General befördert. Vilshofen ist ein erfolgreicher Panzerkommandeur, mit gesundem Menschenverstand, taktischem Geschick und fürsorglich gegenüber den ihm Unterstellten, kurz: das Ideal eines Offiziers. Am Ende des Buchs werden der degradierte Unteroffizier und der beförderte Oberst zusammen den Weg in die Gefangenschaft antreten.

Die eigentliche Handlung beginnt mit dem sowjetischen Angriff, der in der Folge zur Einkesselung der 6. Armee führt. Wir erfahren also nichts über den deutschen Vormarsch und nichts über Siegeserwartungen, sondern von Anfang an ist die deutsche Seite in der Defensive. Bei sehr genauer Lektüre lassen sich die einzelnen Abschnitte einzelnen Tagen zuordnen. Dabei fallen ganze Wochen weg, während manche Tage sehr breit beschrieben sind.

Diese Tage sind solche, an denen die Rote Armee entscheidende Angriffe unternommen hat. Die Literaturwissenschaft hat die These aufgestellt, dass auf diese Weise die sowjetische Seite als der entscheidende Akteur erscheine. Doch wird dies mindestens relativiert dadurch, dass alle Ereignisse aus deutscher Sicht beschrieben sind. Sowjetische Zivilisten geraten kurz als Opfer von Kriegsverbrechen in den Blick, der Kontakt mit Rotarmisten steht für den rettenden Übergang in die Kriegsgefangenschaft. Ein Innenleben haben in diesem Roman aber nur die deutschen Soldaten, und nur deren Leid wird anschaulich.

Bei sehr genauer Lektüre, sagte ich, merkt man, wo Plievier die Zeit rafft und wo er sie streckt. Wer nur das Buch zur Hand hat und sich nicht parallel historisch informiert, dürfte das weniger klar sehen. Im Vordergrund wahrnehmbar ist nur ein stetes Zurückweichen der deutschen Truppen. Dabei nennt Plievier durchaus Ortsnamen. Aber sogar, wenn man heute im Internet Rat sucht, ist es nicht einfach, die Bewegungen nachzuvollziehen. Leser kurz nach 1945 dürften räumlich und zeitlich desorientiert gewesen sein. Der Text behauptet eine stetige Verengung des Raumes, wie sie sich real ja auch vollzogen hat. Der Leseeindruck hingegen wird von einer Reihung von Schreckensbildern dominiert. Plievier fängt beim Entsetzlichen an, dem Einsammeln und Abtransport von Leichenteilen, und wiederholt Mal um Mal das Entsetzliche durch den ganzen sehr umfangreichen Text hindurch. Nach der Lektüre hat man jedenfalls gelernt, dass der Krieg eine hässliche, blutige, ekelhafte Erscheinungsform hat und dass Heroismus verlogen ist. Insofern ist »Stalingrad« ein pazifistisches Buch.

Neben Gnotke und besonders Vilshofen gibt es eine große Anzahl weiterer Personen. Viele von ihnen treten in mehreren Episoden auf, wobei sich zeigt, wie verschiedene Charaktere in einer Extremsituation reagieren. Anhand dieses Figurenensembles kann Plievier die gesellschaftliche Position unterschiedlicher Typen zeigen. Insgesamt entsteht ein umfassendes Bild der möglichen gesellschaftlichen Haltungen im Faschismus. Ausgespart ist stoffbedingt der organisierte Widerstand, der unter den Bedingungen der Kesselschlacht kaum zu leisten war.

Auffällig ist, dass Offiziere unter den Romanfiguren weit stärker vertreten sind, als es ihrem Anteil an der Truppe entspricht. Der Grund dürfte das Gewicht sein, das Plievier auf individualisierende Ethik legt. Ethik ist mit Entscheidungsmöglichkeiten und Verantwortung verbunden – und im Frontbereich kommt hier Offizieren eine wichtigere Rolle zu als Mannschaftsdienstgraden.

Plievier wählt Kommandeure kleinerer Einheiten und beschränkter Frontabschnitte zu seinen Protagonisten. Es handelt sich also um Leute, die einen eng umgrenzten Raum überblicken, nicht aber das Ganze der Schlacht. Dies reicht aus, um eine Reflexion des eigenen Tuns zu erzwingen, und zugleich führt es dazu, dass die Reflexion konkret bleibt.

Die Armeeführung, die eine Sicht auf den ganzen Kessel besitzt, kommt erst spät in den Blick, nämlich als der Kessel bereits auf das Stadtgebiet von Stalingrad beschränkt ist. Der Kommandeur Friedrich Paulus wird durchgehend negativ dargestellt. Er erscheint als Militär, der in Stabsverwendungen Karriere gemacht und von der Praxis des Gefechtsfelds wenig Ahnung hat. Sogar noch sein Entschluss, in Gefangenschaft zu gehen, zeigt wenig Einsicht in die Lage und ihre Ursache. Paulus handelt explizit als Privatmann und versäumt die Chance, durch eine formale Kapitulation dem Töten und Sterben insgesamt ein Ende zu bereiten.

Das Bild vom Krieg

Eben habe ich geäußert, dass der Roman in gewisser Hinsicht als pazifistisch erscheint. Der Krieg, wie Plievier ihn darstellt, erscheint als Anhäufung von Leiden. Es ist bitterkalt, die unzureichende Kleidung ist voller Ungeziefer, in den Kampfstellungen trifft nur zufällig Essen ein, und stets in viel zu kleinen Rationen. Die Folge sind Krankheiten. Und immer wieder schildert Plievier Lazarette, mit Ärzten, die fast rund um die Uhr in blutbespritzten Kitteln operieren, und wo die wenigen Geretteten dann doch erfrieren oder beim nächsten Rückzug dem absehbaren Tod überlassen werden müssen.

Den Soldaten in den vorderen Stellungen fehlt es an Orientierung, und zwar nicht nur über die Gesamtlage. Unklar ist auch, ob es überhaupt noch eine Nachbarstellung gibt und wenn ja, wie sie besetzt ist. Von einer Front kann sowieso nicht mehr die Rede sein. Allenfalls ist auf den verschiedenen Kommandoebenen die Rede von imaginären Haltelinien, für die es an Personal und Ausrüstung fehlt und die in dem gefrorenen, verschneiten Gelände ohnehin auf die Schnelle nicht einzurichten sind. Auf der Ebene der Mannschaften beschränkt sich die Wahrnehmung auf einzelne Punkte, wo man sich – so gut es eben geht – zur Verteidigung einrichtet, bis die Überlebenden weiter hinten auf eine nächste Behelfsstellung zurückfallen. Dabei wird ihre Zahl immer geringer. Es werden immer neue Kampftrupps zusammengewürfelt, aus versprengten Soldaten, aus Leuten, die auf eine Essensration hoffen, und aus armen Schweinen, die von der Feldpolizei in Lazaretten und rückwärtigen Diensten ausgekämmt wurden. Auch in diesen Trupps entsteht so etwas wie Zusammenhalt – eine moralische Qualität, die aber unter den Bedingungen des Kessels zu nichts anderem führt als zur Verlängerung des Leidens.

Von »Kampftrupps« zu sprechen, ist allerdings nur bedingt richtig. Wenn man Kampf als Aufeinandertreffen zweier handlungsfähiger Akteure begreift, ist »Stalingrad« ein Kriegsroman fast ohne Kämpfe. Plievier schildert Etappe um Etappe eine überwältigende sowjetische Artillerieüberlegenheit, die jeden deutschen Versuch, sich irgendwo festzusetzen, zerhackt.

Alle positiven Vorstellungen von Soldatentum werden durch diese Sichtweise zersetzt. In einer anderen Hinsicht ist der Roman freilich nicht pazifistisch. Plievier lässt keinen Zweifel daran, dass Deutschland die Sowjetunion angegriffen hat und kolonialisieren wollte. Entsprechend klar ist auch, dass ein Verteidigungskrieg legitim ist. In wenigen Episoden zeigt Plievier Verbrechen an der sowjetischen Bevölkerung. Der spätere Vorbildoffizier Vilshofen setzt statt Pferden gefangene Rotarmisten ein, die seinen Tross ziehen müssen, was vielen von ihnen das Leben kostet. Schließlich lässt er die Gefangenen frei, weil er für sie kein Essen und auch keine Leute mehr für die Bewachung hat. Deshalb gilt er zwar bei nazitreuen Offizieren als verrückt, doch setzt er seinen Befehl durch.

Nur ganz ausnahmsweise werden sowjetische Opfer nicht auf solche Weise relativiert. Einmal findet sich eine Aufstellung von in verschiedenen Dörfern Ermordeten und erbeuteten Viehbeständen. Plievier verknüpft das mit dem Schicksal dreier verschleppter Frauen. Sie werden von ihren deutschen Besitzern, bezeichnenderweise Etappensoldaten, erst gewaltsam mitgeschleppt und dann dem Verderben überlassen.

Dies also steht zwar auch im Roman, aber eben nur: auch. Der Textanteil solcher Passagen ist zu vernachlässigen. Im Mittelpunkt steht das Leid deutscher Soldaten. Blickt man auf das Gesamtgeschehen des Kriegs im Osten, ist das natürlich unangemessen. Doch lässt sich argumentieren, dass es 1945 darum ging, den Deutschen die eventuell verbliebene Lust am Krieg auszutreiben. Entscheidend wird dann die Schuldfrage. Plievier beantwortet sie auf verschiedenen Ebenen.

Verantwortung

Schuld sind zum einen die Nazis und besonders Hitler persönlich, der völlig sinnlose Haltebefehle gibt, die zu befolgen einen »verfluchten, verbrecherischen, tötenden Gehorsam« beweist. Plievier lässt keinen Zweifel daran, dass es weniger um Irrtümer im militärischen Detail geht. Er wendet sich gegen die faschistische Diktatur und ihren Eroberungskrieg. Doch weil es um die Schlacht von Stalingrad geht, konzentriert sich seine Kritik auf die Niederlage der 6. Armee. Genauer: darauf, dass die Armee zum Weiterkämpfen gezwungen wird, auch als die Lage für sie bereits hoffnungslos ist. Mehr noch: Ihr Untergang soll komplett sein, um als angeblich heroisches Beispiel propagandistisch verwendet werden zu können. In einer der wenigen Episoden, die außerhalb des Kessels spielen, überlegt Propagandaminister Joseph Goebbels: »Aber sterben müssen sie vom Feldmarschall bis zum letzten Mann. (…) Ein Leichnam muss wirklich ein Leichnam sein. Aus einer halben Leiche lässt sich kein politisches Kapital schlagen. Jeder, der ein Loch zum Entschlüpfen findet und der am Leben bleibt (…) wirkt gegen das Unternehmen: gegen das gigantische Aufpulvern der Nation zum Letzten!«

Die deutsche Nation im Ganzen und die 6. Armee im Besonderen erscheinen damit vor allem als Opfer einer bedenkenlosen politischen Führung. Eigentliche Nazis gab es in den Reihen der Armee – glaubt man Plievier – nur wenige. Für sie steht auf der Führungsebene Arthur Schmidt, der Stabschef der Armee, der aber im Roman kaum auftritt. Szenisch präsent ist Oberleutnant Wedderkop, ein junger Offizier, der durch seine Erziehung in Hitlerjugend und SS geprägt ist und uneingeschränkte Härte fordert. Plieviers Pointe besteht nun darin, dass gerade der Exponent der neuen faschistischen Generation – im Unterschied zu traditioneller geprägten Offizieren – der Härte der Schlacht nicht gewachsen ist. Sein »Herren- und Übermenschentum« ist von »der edlen Eigenschaft menschlicher Kühnheit« weit entfernt. Dem »Leben gegenüber konnte er so, wie er gebildet worden war, nicht bestehen«. Darum scheitert Wedderkop, verkriecht sich schließlich angesichts des Grauens mit irgendwelchen Drückebergern in einem Keller in Stalingrad und wird dort erschossen.

Anders verhält es sich mit jenen Offizieren und Mannschaften, die sich vom Feldzug im Osten eine bessere individuelle Zukunft erhofft haben. Vom Major Keil etwa heißt es: »Als der Krieg ausbrach, hatte sein Vater an der Landstraße Königsberg –Cranz eine Tankstelle und Autoreparaturwerkstatt betrieben. Als Keil im Winter 41 nach einer Verwundung auf Erholungsurlaub kam, standen dort bereits zwei Werkschuppen, großspurig ›Werkhallen‹ genannt. Deutschland dehnt sich aus, und auch der einzelne – wenn er tüchtig ist und treu zu ›Führer und Reich‹ hält – dehnt sich aus, und aus einer Tankstelle wird eine Fabrik; das war der einfache Standpunkt, den Keil zum Kriege einnahm.«

Plievier erzählt mehrere Geschichten solcher Möchtegernprofiteure, und nur manche von ihnen erkennen noch vor ihrem Tod, dass sie sich verkalkuliert haben. Erhellend ist der Roman auch, wenn Plievier beschreibt, wie sich eingeübte Vernichtungstaktiken im internen Kampf wiederfinden. In einem Bunker wird beim Unteroffizier Urbas Typhus erkannt. Alle anderen sind dadurch gefährdet. Schnell ist eine Lösung zur Hand: »Der Obergefreite Rieß, früher SS-Mann und vor einem Jahr bei einer SS-Lagerwache im Generalgouvernement Polen, kannte das Radikalmittel gegen Typhus: eine Kugel hinter die Ohren und vierzehn Fuß tief unter die Erde und Kalk rüber!« Doch der Gegner ist gleichfalls trainiert: »Aber auch Unteroffizier Urbas – früher Unteroffizier beim Tross und aus dem Suwalkizipfel bis in die Gegend von Moskau und vom Dnjestr über Kiew und Charkow und Rostow und Kalatsch bis in die Don- und Wolgasteppen hinein – kannte gewisse Methoden und Praktiken.« Nur war es für ihn unvorstellbar gewesen, dass diese einmal von den Kameraden gegen ihn eingesetzt würden. Urbas wehrt sich verzweifelt, und es kommt zu einem Kampf im Bunker, der erst durch sowjetischen Artilleriebeschuss beendet wird. In den klügsten Passagen des Romans vermag Plievier zu zeigen, dass die faschistische Ideologie nicht allein Gewalt nach außen bedeutet, sondern auch das Miteinander in der vorgeblichen »Volksgemeinschaft« zersetzt. Es sind die Nichtnazis unter den deutschen Soldaten, die sich dem entgegenstellen und ein menschliches Miteinander ermöglichen.

Dies ist freilich wiederum ambivalent. Gerade dadurch ermöglichen sie den Zusammenhalt der Truppe und schaffen die Voraussetzung dafür, dass das Nazikalkül aufgeht. Auch dies formuliert Plievier, im abschließenden Gespräch zwischen Vilshofen und Gnotke: »Vilshofen musste sich sagen lassen, dass er als guter Offizier, der selbst mit vorn im Dreck gelegen und der Zigaretten und Brot und manches mit den andern geteilt hatte, verhängnisvoller als der schlechte Offizier gewesen wäre; und nicht der Unkameradschaftliche und nicht der Ausflieger und nicht der, der nur an die Rettung der eigenen Haut gedacht hatte und dem niemand Glauben schenkte, sondern er, der das Vertrauen besessen hat, hätte die Truppe in den Untergang geführt.« Direkt im Anschluss daran wird dies abstrakter formuliert: »Und das war zuzugeben: alle moralischen und sittlichen Qualitäten müssen zuschanden werden und müssen das ihnen wesentlich Entgegengesetzte bewirken, wenn derjenige, dem sie zu eigen sind, Befehle durchführt und einem Gesetz gehorcht, das nicht das Gesetz ist, sondern Satzung einer Verschwörung asozialer Besitzer, die immer mehr besitzen, mehr Kohle, Eisen, Boden an sich reißen (…) wollen.«

Diese Passage kombiniert ein moralisches Problem mit Fragen ökonomischen Interesses, jedoch ohne das Verhältnis zu klären. Imperialismus – das Wort fällt natürlich nicht – erscheint bloß als Folge von Gier, also eines moralischen Defekts. Als Figurenperspektive von Vilshofen und Gnotke ist das stimmig, doch geht der Roman nirgends darüber hinaus.

Soziologie des Offizierskorps

Zentral ist die Auseinandersetzung, wie man sich angesichts des sich immer deutlicher abzeichnenden Untergangs des 6. Armee moralisch zu verhalten habe, im bei weitem umfangreichsten Abschnitt des Buchs. In einem Stalingrader Bunker, kurz vor dem Ende des Kessels, zwingt Vilshofen anderen Generalen ein Gespräch über das richtige Tun auf. Ziel der Kritik ist zunächst der General Vennekohl, der kurz zuvor Soldaten bei einem gescheiterten Angriff verheizt hat. Das einzige Ziel des Unterfangens war, ihm den Weg zu einem rettenden Flugzeug freizukämpfen.

Als positive Gegenfigur erscheint zunächst der – historisch belegte – Divisionskommandeur Alexander von Hartmann, der sich zu seinen Soldaten in die vorderste Linie begeben hat, um sich dort vom Feind töten zu lassen. Ein im Bunker anwesender General erschüttert diese Gewissheit mit dem Einwurf: »Ich Selbstmord begehen, für diesen hergelaufenen Lumpenkerl? Nein!«

Mit einer solchen öffentlichen Äußerung über Hitler ist das Außerordentliche der Situation markiert; tatsächlich verlassen zwei nazitreue Offiziere den Raum und bringen sich um, weil sie begriffen haben, dass ihre Ideale abgeräumt sind. Im weiteren Verlauf des Gesprächs, der von Vilshofen bestimmt wird, zeigt Plievier unterschiedliche Reaktionen auf die neue Lage und entwirft so eine Art Soziologie des Offizierskorps. Da gibt es intellektuell neugierige Generale, die zuhören, was dieser Vilshofen – mag er auch etwas zu weit gehen – zu sagen hat. Ebenfalls gibt es den einfältigen (oder sich einfältig gebenden) Troupier, der Unverständnis hat. Vennekohl als Vertreter dieser Position hat Gründe, moralische Diskussionen zu meiden. Andere stellen Pflichterfüllung in den Vordergrund. Sie lehnen individuelles Infragestellen ab.

Eben sie trifft Vilshofens Vorwurf, sich als Instrument einer verbrecherischen Führung untergeordnet und ihre Armee geopfert zu haben. Sie empören sich, wenn Vilshofen darlegt, dass sie keineswegs mehr Helden kommandieren, sondern Männer, die durch wochenlange Entbehrungen nur noch durch Vergleiche mit Tieren beschrieben werden können.

Natürlich legt das die Frage nahe, ob denn ein erfolgreicher Eroberungskrieg okay gewesen wäre; dazu später. Vorerst gilt die Frage nach verantwortlichem Verhalten. Die feige Flucht à la Vennekohl kann es nicht sein. Der heroische Soldatentod à la von Hartmann hingegen spielt der Nazipropaganda in die Hände. Tatsächlich wurde der historische Offizier posthum zum General befördert. Entsprechend schließt Vilshofen seine Ausführungen: »Hier und in dieser Minute wissentlich für das Verbrechen und den Fortgang des Verbrechens sterben; das ist zuviel! / Das ist die Lage, unsere besondere Lage, meine Herren: das hebt die Folgewidrigkeit des Trotzdem-am-Leben-Bleibens auf. Das Leben empfangen Sie wieder als Lebensurteil! Nur gegen den: nur gegen den und gegen das an Deutschland und an den Völkern begangene Verbrechen!«

Gegen die Nazis: ja. Aber die Nazis haben also ihre Verbrechen zugleich an den Deutschen und an anderen Völkern begangen. Wahrscheinlich hat es sich bei ihnen um Außerirdische gehandelt. Mit solchen Sätzen fällt Plievier jedenfalls hinter die Erkenntnisse zurück, die er in Geschichten individueller Soldaten gestaltet und die deren Mittäterschaft zeigen. Der Roman ist zugleich Analyse des deutschen Faschismus und bündnispolitisches Angebot, diesen Faschismus zu überwinden. Beides geht nicht bruchlos zusammen.

Die Zukunft

Die Schlusspassage stellt einen Versuch dar, dieses Problem zu bewältigen. Dass auf dem Weg in die Gefangenschaft ein Unteroffizier und ein General nebeneinander gehen und sich verständigen, war real angesichts des Rangunterschieds denkbar unwahrscheinlich. Dass es im Roman gelingt, zeigt der Schlusssatz, in dem von einer parallelen Spur zweier Männer im Schnee die Rede ist. Ästhetisch taugte das Gelingen gerade wegen seiner Unwahrscheinlichkeit als Bild für eine bessere Zukunft. Über diese Zukunft selbst erhalten wir nur wenige Auskünfte. »Jeder Mensch soll atmen können. Soll Wirt in seinem Haus sein; was er mit seinen Händen schafft, soll er auch erhalten und auch verzehren dürfen; das ist grob gesagt die Ordnung, die zu schaffen ist.« Man könnte diese Idee Vilshofens leicht als idealisierte bäuerliche Subsistenzwirtschaft verhöhnen. Wahrscheinlich stehen aber nicht einmal ökonomische Gedanken dahinter, und es geht Plievier einfach nur um ein Gegenbild zur schlimmen Kriegszeit.

1945 war das gerade durch seine Vagheit politisch nützlich. Es handelte sich um ein Angebot an die überlebenden Deutschen, auf die richtige Seite zu wechseln. Dass dabei von der Nation häufig die Rede ist, passt zu dieser literarisch-ideologischen Strategie. Da ist von der Schuld des deutschen Volks die Rede, das freilich missbraucht worden sei. Ebenso beklagt Plievier, dass in den letzten Tagen des nutzlosen Kampfes Soldaten »nochmals eingesetzt, zerhackt, von Eisen überschüttet und in Hekatomben in die Luft geschleudert wurden. (…) Die deutsche Mutter hatte sie geboren für ein letztes Aufflattern des Spuks unter dem hellen Winterhimmel.«

Zugleich gibt es Taktiken der Schuldverschiebung. Vilshofen legt den anderen Generalen unwidersprochen dar, dass die Eroberungspläne von Hitler und seinen Unterstützern aus der Industrie den Deutschen eigentlich fremd seien. Die Pläne seien »doch nichts als Kopien von englischen, spanischen, portugiesischen Originalen aus dem 17., dem 16. und 15. Jahrhundert, aber nichts Eigenes, nichts aus unserm Boden und aus unserer Volksseele Gewachsenes«. Und schließlich gibt es irritierendes Pathos: »Der Stalingrad-Soldat, seine Genügsamkeit, Anpassungsfähigkeit, Zähigkeit, Ausdauer, seine Leidensfähigkeit, stummes Ertragen von Qualen, seine pünktliche Pflichterfüllung, sein Ausharren und Kämpfen bis zum letzten, welche Höhe an unpathetischem und stummbleibendem Kämpfertum!«

Fast möchte man meinen, die Schlacht von Stalingrad sei doch zu etwas gut gewesen. Tatsächlich handelt es sich um ein Identifikationsangebot, das gerade in seiner üblen Landser-Terminologie gegen die Nazis gerichtet ist. Gerade dieses Kämpfertum, meint Plievier, wurde ja missbraucht. Wir haben es also mit einem antifaschistischen Roman zu tun, in dem sich, zugunsten der unmittelbaren Wirksamkeit, reaktionäres Gedankengut findet – sei es als Taktik, sei es als Unklarheit im Bewusstsein des Autors. Wir haben uns also im zweiten Teil mit dem Werdegang dieses Autors zu befassen, mit dem zeitgenössischen Stellenwert seines wichtigsten Romans, mit den Folgebänden. Dann können wir einen weiteren Blick auf »Stalingrad« werfen.

Kai Köhler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 7. März 2025 über den französischen Komponisten Maurice Ravel: »Kunst der Distanznahme«

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