Das Spiegelbild, dein Feind
Von Daniel Bratanovic
Der Schneckenkönig ist selten, er ist eine Anomalie, eine Laune der Natur. Ein Schneckenkönig ist eine Schnecke, deren Haus in die spiegelbildliche, nicht arttypische Richtung gewunden ist. Üblicherweise hat das Kriechtier ein rechtsgewundenes Gehäuse, die relative Häufigkeit von Individuen mit linksdrehendem Haus wird auf maximal 1:40.000 geschätzt. Bei den Linksdrehern sind auch sämtliche Organe – Herz, Atem- und Geschlechtsöffnung – spiegelverkehrt angeordnet. Das hat zur Folge, dass sich ein Schneckenkönig nicht paaren kann, es sei denn, er trifft auf einen anderen Schneckenkönig, was weniger wahrscheinlich wäre als ein Sechser im Lotto.
Rechte und linke Hand
Doch was, wenn Spiegelorganismen nicht bloß eine ausgesprochen rare Anomalie wären, sondern das Ergebnis menschlicher Schöpfung? Auch wenn solche Lebensformen bisher nicht existieren, könnten sie nach jetzigem Stand der Forschung womöglich in 15 bis 30 Jahren im Labor geschaffen werden. Die Rede ist dabei nicht von komplexeren Organismen, sondern von der Produktion einer spiegelbildlichen Zelle, zum Beispiel ein Spiegelbakterium. Über solches Design wird unter Naturwissenschaftlern diskutiert oder besser gesagt: Eine Reihe von ihnen hat eine deutliche Warnung vor den Folgen solcher Experimente ausgesprochen und einen Stopp beziehungsweise ein strenges Reglement für die Forschung an Spiegelbildzellen gefordert. Insgesamt 38 Naturwissenschaftler haben einen Aufruf unterzeichnet, der im Dezember 2024 in der Zeitschrift Science erschien. Darin machen sie darauf aufmerksam, dass Spiegelorganismen, einmal erschaffen und freigesetzt, beispiellose Risiken für Mensch und Natur bergen.
Was sind spiegelbildliche Lebewesen und warum könnten sie dereinst zum Problem werden? Alles Leben auf diesem Planeten – Pilze, Pflanzen, Tiere – besteht auf der molekularen Ebene aus einander sehr ähnlichen Bausteinen, vor allem Proteinen, Kohlenhydraten und Fetten. Prinzipiell können die Moleküle in verschiedener räumlicher Anordnung existieren, und zwar so, dass sie chiral sind: Sie sind füreinander Bild und Spiegelbild, was eine Selbstabbildung ausschließt, das Spiegelbild also durch Drehung nie in das ursprüngliche Molekül überführt werden kann. Es verhält sich wie mit den erwähnten Schnecken oder wie mit der linken und der rechten Hand: Bezogen aufeinander sind sie seitenverkehrt, die rechte Hand mag den linken Handschuh nicht.
Immunsystem umgehen
Nun ist es aber interessanterweise so, dass ausnahmslos alle Lebewesen die gleichen Spiegelformen aufweisen. So besteht die DNA aller Organismen aus »rechtshändigen« Nukleotiden, die Proteine, Bausteine der Zellen, wiederum aus »linkshändigen« Aminosäuren. Warum die Natur so konstruiert ist, weiß man nicht. Eine Vermutung lautet, dass alles Leben von einem gemeinsamen Urahn abstammt, der bereits alle Komponenten des biochemischen Apparats besaß, der auch in heutigen Lebewesen zu finden ist.
Theoretisch und, glaubt man den warnenden Forschern, in nicht allzu weiter Zukunft auch praktisch, ist es möglich, im Labor »linkshändige« Nukleotiden und »rechtshändige« Aminosäuren herzustellen und sie zu lebendigen Zellen, zum Beispiel Bakterien zusammenzubauen, die dann molekulargeometrisch von anderer Struktur als bekannte Bakterien wären (unser Schneckenkönig übrigens ist das nicht). Solche Spiegelbakterien könnten, das ist die Gefahr, die in dem in Science veröffentlichten Aufruf genannt wird, den Immunmechanismus in komplexeren Organismen umgehen.
Natürliche Krankheitserreger bestehen aus Molekülen mit natürlichen Spiegelformen. Das Immunsystem erkennt genau solcherart angeordnete Moleküle und eben nicht solche, die spiegelverkehrt sind – es würde bei Spiegelbakterien vermutlich versagen, hätte Schwierigkeiten, derartige Bakterien überhaupt als solche zu erkennen. Eine entsprechende Immunreaktion bliebe also aus, schwere Krankheitsverläufe wären wahrscheinlich.
Zudem nehmen die Kritiker der Spiegelorganismusforschung an, dass Spiegelbakterien resistent gegen Viren, andere Mikroben und auch Antibiotika wären. Denn auch Viren koppeln passgenau an die Oberflächenstrukturen ihrer Wirtszellen an, bei seitenverkehrten Strukturen funktioniert das nicht. Mikroben wiederum dürften aus ähnlichen Gründen Schwierigkeiten haben, aufgefressene Spiegelbakterien zu verdauen, und auch Antibiotika sind von chiralen Wechselwirkungen abhängig.
In ihren Projektionen gehen die Forscher von einer weiteren Gefahr aus: Sollten Spiegelbakterien in die Umwelt gelangen, könnten sie dort stabile Populationen bilden, da sie aufgrund ihrer Immunität gegenüber Viren und anderen Mikroben einen Fitnessvorteil besitzen, der auch nicht dadurch zunichte gemacht würde, dass sie nur bestimmte Nährstoffe verarbeiten könnten – nämlich solche, die nicht chiral sind, etwa Alkohole, Essigsäure oder einige Fettsäuren. Das gäbe ihnen in vielen Ökosystemen eine Überlebenschance.
Überzogen und verfrüht
Gegen den Aufruf in Science haben andere Wissenschaftler vorgebracht, die dort genannten Warnungen seien überzogen und verfrüht. Der Wettbewerbsnachteil der Spiegelorganismen sei riesig gegenüber Konkurrenten, die sich in den vergangenen drei bis vier Milliarden Jahren perfekt an die Umwelt angepasst haben, sagt der Biowissenschaftler Andrew Ellington von der University of Texas in Austin dem Magazin Spiegel. Der deutsche Chemiker Benjamin List merkt an, dass die Menschheit von der Herstellung synthetischer Zellen noch ziemlich weit entfernt sein dürfte. Der spiegelbildliche Nachbau von Zellkomponenten wie Membran, Plasma, Ribosom oder Mitochondrien dürfte nach seiner Einschätzung noch 100 Jahre dauern. Es gebe größere Probleme als etwas, das bisher nur in der Phantasie existiert.
Ob die genannten Gefahren künftig zur realen Menschheitsbedrohung werden oder nicht, erschüttert eine Gewissheit nicht: Alles, was diese Menschheit bauen kann, baut sie früher oder später auch.
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vom 24.06.2025