Auf breiter Front
Von Jürgen Pelzer
»Wenn die Verbrechen sich häufen, werden sie unsichtbar.« (Bertolt Brecht, 1935)
Am Abend des 21. Juni 1935 strömten mehrere tausend Menschen zur Pariser Rue Saint-Victor 24, wo um 21 Uhr der »Internationale Kongress zur Verteidigung der Kultur« beginnen sollte. Zeitungsartikel und Plakate hatten das Ereignis angekündigt. Der große Saal im Gebäude der Mutualité mit 3.000 Plätzen war trotz relativ hoher Preise ausverkauft. Der Andrang war so groß, dass Lautsprecher installiert werden mussten, so dass man die Reden auch außerhalb des Saales hören konnte. Nahezu hundert Journalisten verfolgten die Debatten. Etwa 250 Schriftstellerinnen und Intellektuelle aus 38 Ländern nahmen teil und diskutierten die Beiträge zu den Themen in den jeweiligen Arbeitsbereichen. Im Anschluss an den Kongress fanden zahlreiche Empfänge statt, die dem weiteren Austausch dienten. Bereits wenige Tage später veröffentlichten die Mitteilungen der deutschen Freiheitsbibliothek, die 1934 als Antwort auf die massentauglich inszenierten Bücherverbrennungen der Nazis im Jahr zuvor gegründet worden war, erste Auszüge aus den Reden.
Bündnispolitik
Der Kongress hatte sein Ziel, das darin bestand, im Kampf gegen den sich ausbreitenden Faschismus repräsentative Gruppen aus dem In- und Ausland zum Meinungsaustausch zu versammeln, weitgehend erreicht. Dabei ging es insbesondere darum, die Gräben zwischen eher bürgerlich-liberalen und sozialistischen oder kommunistischen Gruppierungen zu überwinden. Der literarischen Volksfront sollte bereits im kommenden Jahr die politische Volksfront unter Léon Blum in Frankreich folgen. Ein solcher Zusammenschluss, der auch der gewandelten Zielsetzung der Kommunistischen Internationalen entsprach, erschien im Kampf gegen den Faschismus unabdingbar.
Der Kongress war vor allem insofern ein Erfolg, als er die Isolation der schriftstellerischen Einzelverbände überwand, um so die Bedrohung durch den Faschismus auf breiter Front zu bekämpfen. So hatte Anna Seghers im Dezember 1934 auf einer Versammlung des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller (SDS) vorgeschlagen, man solle sich an Organisationen und Einzelpersönlichkeiten wenden, um eine »Konferenz aller fortschrittlichen Kräfte der Literatur« zu organisieren. Schließlich habe man »am eigenen Leibe das Ausmaß der Reaktion« in Deutschland erfahren. Damit wollte Seghers für die Teilnahme am Kongress werben.
Die anfänglichen Planungen liegen freilich weiter zurück. Sie gehen auf Initiativen linker Gruppierungen (wie der Internationalen Vereinigung revolutionärer Schriftsteller, IVRS) und Zeitschriften (wie der seit 1931 erscheinenden Internationalen Literatur) sowie auf den von Henri Barbusse und Romain Rolland nach Amsterdam einberufenen Antikriegskongress vom Dezember 1932 zurück. Im Anschluss daran fand eine weitere Konferenz der französischen Sektion der IVRS statt, die darauf abzielte, den Kampf gegen die Bedrohung durch Kriege auf eine breitere Basis zu stellen und dabei kulturelle Fragen zu thematisieren. Bald nach der Machtübergabe an die NSDAP im Januar 1933 fand bereits eine weitere Konferenz statt, die die Bildung einer internationalen Organisation der antifaschistischen Schriftsteller vorschlug. Ähnliche Überlegungen gab es auch bei Bertolt Brecht, der im Juni 1933 eine Konferenz vorschlug, »auf der Ziel und Methoden unserer zukünftigen Arbeit endgültig festgelegt werden«. Im Oktober 1933 beschäftigte sich auch die deutsche Sektion der IVRS mit einem solchen Plan. Der Forderung nach einer breiteren Bündnispolitik, die es bereits auf dem Amsterdamer Friedenskongress gegeben hatte, wurde nun auch in den entsprechenden Gremien der Komintern stattgegeben.
Auch der im Sommer 1934 stattfindende Allunionskongress sowjetischer Schriftsteller betonte die Notwendigkeit eines breiten Zusammenschlusses im »Kampf gegen den gemeinsamen Feind – im Kampf gegen den Faschismus«. Die organisatorischen Vorbereitungen für die große Konferenz in Paris wurden dann von französischen, sowjetischen und deutschen Schriftstellerinnen und Schriftstellern getragen. Diese Gruppen dominierten auch auf dem Kongress.
Den Begriff »Verteidigung der Kultur« hatte der Schriftsteller und Journalist Paul Vaillant-Couturier durchgesetzt. Damit war offenbar an eine breite Basis für alle im Kulturbereich Tätigen gedacht, deren Arbeit durch den Faschismus existentiell bedroht war. Die Betonung des Kulturellen bot die Möglichkeit, die Rolle der eigenen schriftstellerischen Arbeit politisch und ästhetisch zu reflektieren. Der Begriff »Verteidigung der Kultur« implizierte dabei auch die Frage, um welche Kultur es eigentlich ging – um die bürgerlich-progressive Kultur der Vergangenheit? Die Kultur der zumeist isolierten künstlerischen Avantgarde der jüngsten Vergangenheit? Oder um die sozialistische Literatur, wie sie vor allem von den anwesenden sowjetischen Teilnehmern vertreten wurde? War man eher dem bürgerlichen Humanismus, den »Ideen von 1789«, verpflichtet oder einem sozialistischen Humanismus, der auf den gesellschaftlichen Umwälzungen nach 1917 beruhte? War ein Brückenschlag möglich, wie ihn etwa Johannes R. Becher anvisierte?
Bedrohte Kultur
Es ging also darum, »die Kultur zu bestimmen«, wie Vladimir Pozner kommentierte: »Ihre Vergangenheit, ihren gegenwärtigen Zustand. Sie ist bedroht. Durch wen? Wie? Man muss sie verteidigen. Gegen wen? Und mit welchen Mitteln?« Ironischerweise geriet bei solch fundamentalen Fragen oft in den Hintergrund, worin die konkreten Gefährdungen der Kultur – oder besser: des kulturellen Lebens in den noch nicht vom Faschismus beherrschten Gesellschaften – bestand. Selbst von den deutschen Exilschriftstellerinnen und -schriftstellern, die am Kongress teilnahmen, wurden meist nur Einzelaspekte genannt, wenn sie über die gravierenden Entwicklungen in Deutschland seit 1933 sprachen.
Die Themenkreise der Konferenz waren breit angelegt, doch bestimmte Fragen tauchen immer wieder auf: die Rolle des Kulturerbes und des Humanismus, das Verhältnis von Nationalkultur und Universalkultur, von Nationalismus und Internationalismus sowie die Rolle der Schriftsteller und deren individuellen Schreibmotivation und politische Verantwortung in einer Zeit, die als Epochenschwelle wahrgenommen wurde.
André Gide, einer der Organisatoren der Konferenz, zeigte an einer Reihe von Beispielen, was für ihn die Dynamik der kulturellen Entwicklung ausmacht: die angeblichen Widersprüche zwischen Patriotismus und Internationalismus, von Individualismus und Kommunismus oder dem Sinn für das gesellschaftliche Ganze. Für Gide sind dies keine Widersprüche: Er könne »aus voller Überzeugung zugleich Internationalist und Franzose« sein, wie ihm auch der Kommunismus dazu verhelfe, Individualist zu sein. Auch andere angebliche Widersprüche der kulturellen Entwicklung, namentlich in der französischen Kunst und Kultur, entpuppten sich aus seiner Warte als höchst produktiv. Es ist diese Offenheit – eine Offenheit, die den Vertretern einer starren Gegenüberstellung abging, die Gide auch für die Zukunft eines sich emanzipierenden Humanismus hoffen ließ. Die Kunst sei zwar, wie André Malraux in der gleichen Sektion ausführte, traditionell eine Sphäre des Individualismus, und zwar sowohl was die Produktion als auch die Rezeption angehe, ja, Malraux ging so weit, die Romantik für die »Schwächung der kämpferischen Brüderlichkeit« verantwortlich zu machen. Doch auch er hielt an der Möglichkeit eines neuen Humanismus fest, der »in der Linie des Denkens von Voltaire zu Marx« die reale Bewusstwerdung des Menschen herbeiführe. Die Bedrohung der Kultur durch den Faschismus tauchte bei beiden Autoren nur im Hintergrund auf: als auf Hass basierendem Nationalismus einerseits und andererseits als Gefahr eines Krieges, der das Ende Europas bedeuten würde.

Der weltweit zur »Staatsdoktrin« erhobene Nationalismus war auch das Thema des Vortrags des Antikriegsaktivisten Henri Barbusse, der das Ziel dieses Nationalismus in einer Gegenbewegung gegen die »Universalisierung der Massen« im kollektiven Eintreten für universale Menschenrechte sah. Der Nationalismus sei antiuniversell. »Die Nation wird zum höchsten Ziel, zu einer Mauer.« Offensichtlich mit Blick auf Nazideutschland sprach Barbusse davon, dass »der soziale Mensch im Bürger« getötet und »die Kunstschaffenden zahm gemacht werden«. Die Nation richte sich dabei nicht nur gegen andere Nationen, sondern gegen das eigene Volk. »In der entscheidenden Phase des weltweiten Bürgerkriegs« sei ein gegen diesen Nationalismus gerichteter Internationalismus »unerlässlich«, um »Gerechtigkeit und Frieden zu errichten«.
Faschismen
Andere Beiträge auf der Pariser Konferenz führten konkret vor Augen, unter welch barbarischen Formen sich der Faschismus weiter ausbreitete. Ljudmil Stojanow, ein bulgarischer Schriftsteller, berichtete davon, dass in seinem Land bereits seit einigen Jahren »die Kräfte der Vergangenheit« mobilisiert werden, um die Errungenschaften der Kultur zu vernichten. Ausgangspunkt war ein militärischer Staatsstreich im Jahr 1923; unter dem Vorwand einer kommunistischen Verschwörung wurden Tausende verhaftet, gefoltert, ermordet oder aus dem Land vertrieben. Kultur bedeutete für den bulgarischen Autor ganz konkret menschliche Arbeit, gemeinschaftlicher Kampf um Fortschritt und eine demokratische Gesellschaft. Doch wie das deutsche Beispiel zeige, könne kultureller und gesellschaftlicher Fortschritt schnell in Kulturverfall umschlagen, etwa wenn ein Volk als »auserwählt« hingestellt werde. Um dies zu verhindern, müssten Schriftsteller letztlich »Krieger«, nicht bloß »Hüter« der Kultur sein.
Autorinnen und Autoren berichteten auch von den Zuständen in den durch Sprachbarrieren relativ isolierten Ländern Lettland, Griechenland und Portugal, wo sich bereits autoritäre oder faschistische Regime etabliert hatten. Der Kongress bot die Möglichkeit, auf die oftmals übersehenen Zustände in diesen Ländern der Peripherie hinzuweisen und zugleich die stets nach den gleichen Mustern von nationalistischer Propaganda, Gewaltanwendung, Zensur und Vertreibung verfahrenden Faschismen hinzuweisen. Die Bedrohung der Kultur war in den genannten Fällen längst in die offene Herrschaft des Terrors umgeschlagen.
Dies war auch in Deutschland der Fall, wo im Sommer 1935 der Nazifaschismus fest etabliert, die Opposition ausgeschaltet und alle wichtigen Bereiche des öffentlichen Lebens einschließlich kultureller Organisationen »gleichgeschaltet«, unter die Herrschaft der Nazipartei gebracht worden waren. Bereits im Mai 1933 hatte man überall Bücherverbrennungen organisiert, um so das deutsche Kulturleben symbolisch von »artfremden Einflüssen zu reinigen«, wie sich Propagandaminister Joseph Goebbels ausdrückte. Der Exilautor Alfred Kantorowicz wies gleich zu Beginn seines Beitrags auf die Zielrichtung dieser umfassenden Gleichschaltung hin: die Vorbereitung des nächsten Krieges, der nicht nur die technische Aufrüstung, sondern auch die ideologische Mobilisierung verlange. Die Unterweisung in Technik und Kriegsmoral beginne, wie Kantorowicz die einschlägigen Reden maßgeblicher Nazifunktionäre zitierte, bereits in den ersten Schuljahren. Der Begriff des »Vaterlands« lasse sich, da er »formlos, vieldeutig interpretierbar« sei, ideal zur faschistischen Massenbeeinflussung einsetzen. Eine solche Faschisierung hätten auch zahlreiche Romane, Erzählungen und Essays im Sinn. Kantorowicz ließ es sich nicht nehmen, die wichtigsten Vertreter dieser Krieg und Nation verherrlichenden Literatur aufzuzählen. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs habe zwar eine vorübergehende Ernüchterung eingesetzt, doch die entscheidenden Fragen nach Ursachen und Profiteuren des Krieges seien nicht gestellt worden. Statt dessen sei der »Glanz einer falschen Gemeinschaft« propagiert und der Kult einer abstrakten »Tatbereitschaft« sowie nihilistischen Todesverachtung zelebriert worden, die dem nächsten Krieg dienen sollen. Die Aufgaben für die Schriftsteller ergeben sich aus dieser Situation von selbst: Aufklärung, Entlarvung der lügenhaften Propaganda und die Darstellung einer auf einem »heroischen Lebenswillen« beruhenden sozialistischen Gemeinschaft. Es fragt sich allerdings, ob sich eine derart logische Entgegensetzung so leicht bewerkstelligen lässt. So wies Klaus Mann in seinem Vortrag auf die psychologische Aufnahmebereitschaft hin, die junge Menschen anfällig mache für die Propaganda eines abenteuerlichen oder »gefährlichen« Lebens. Die eigene Aufklärungspraxis oder der Appell an die Vernunft habe dies zumeist nicht genug berücksichtigt.
Auf wessen Feld steht der Baum?
Anna Seghers ging in ihrem Beitrag mit dem vielleicht überraschenden Titel »Vaterlandsliebe« einen Schritt weiteren. Sie beließ es nicht bei der Entlarvung der notorischen Propagandapraxis, sondern gab zu bedenken, dass der Begriff des Vaterlands zu verschiedenen Zeiten verschiedene Funktionen hatte. So war, etwa im Italien des 19. Jahrhunderts, als der Nationalstaat »die neue und gemäße Form für neue gesellschaftliche Inhalte war«, eine Kombination von Patriotismus und Revolution möglich. Die Frage für die Gegenwart müsse lauten, ob der Begriff nun zur Klammer diene, »um eine aus den Fugen gehende Gesellschaft mit Zwang zusammenzuhalten«. Seghers warnte vor einer vorschnellen Antwort, da sich der Vaterlandsbegriff auch unter verschiedenen Bedingungen leicht »regenerieren« lasse, da er sich auf ureigene Erfahrungen der Menschen (etwa durch die Sprache) beziehe. Aufgabe der Schriftsteller sei es deshalb, das historisch und gesellschaftliche Besondere der Natur- oder Stadtumgebung zu erfassen: Es gebe keine »Heimaterde schlechthin«, und bei einem Apfelbaum komme es darauf an, ob er auf dem Feld eines Feudalbesitzers stehe oder auf einem vom Fiskus gepfändeten Feld.
Am Beispiel der Fabriklandschaft Leuna zeigte Seghers, dass sich der dadurch ausgelöste Stolz nicht auf den oberflächlichen Blick beziehen könne, sondern allenfalls auf die dort investierte Arbeitskraft, die politischen Niederlagen an diesem Ort und den Ausblick auf die Zukunft dieser Werklandschaft. Bei einer Vielzahl von deutschen Schriftstellerinnen und Schriftstellern habe sich die Vaterlandsliebe gerade im Leiden an ihrem Land gezeigt, im Verzweifeln an den Zuständen und den geringen Chancen einer gesellschaftlichen Veränderung. Abschließend plädierte Seghers dafür, »die wirklichen Kulturgüter den vorgeblichen Sachwaltern« zu entziehen und am Aufbau »neuer Vaterländer« zu arbeiten.
Eine Strategie gegen den Faschismus war dies wohl eher nicht. Seghers wollte offensichtlich am Beispiel des Patriotismus zeigen, wie sich der Begriff im Sinne einer Utopie umfunktionieren lasse. Für die schriftstellerische Praxis – vor allem die eigene – konnte dies allerdings produktiv sein. Seghers hatte bereits in ihrem ersten Exilroman Roman »Der Kopflohn« gezeigt, wie sich die Zustände und Lebensbedingungen auf dem Land und die Empfänglichkeit für patriotische Parolen differenziert darstellen lassen.
Ursachenforschung
Auch Brecht behielt in seinem auch heute noch lehrreichen Beitrag die konkrete schriftstellerische Praxis im Auge. Er bezog sich auf die Greuel des Faschismus, der »die westliche Kultur in Blut und Schmutz erstickt«. Freilich wies Brecht sofort darauf hin, dass das Erschrecken über diese Greuel oder sogar deren Darstellungen, so wichtig sie seien, noch nicht viel zur Bekämpfung solcher Greuel beitrage. Der bloße Affekt, der Aufschrei, das entsetzte Aufspringen, helfe nicht bei der Abstellung der Greuel. Brecht ging noch weiter und bemerkte, dass der Zorn über das schreiende Unrecht, das Mitleid mit den Misshandelten »ausgehen kann«. Die Häufung der Verbrechen mache diese letztlich sogar unsichtbar. Das Unrecht gelte als unvermeidbare, erwartbare Tatsache, an der sich wenig ändern lasse. Der Beobachter wende sich ab, da er nicht eingreifen könne: »Selbst der beste Mensch verweilt nicht bei dem Schmerz eines anderen.« Doch statt der emotionalen Reaktion lasse sich nach dem Hintergrund fragen, nach den Motiven für die Schläge, die auf das Opfer niedergehen. Man könne fragen: »Warum fällt der Schlag? Warum wird die Kultur über Bord geworfen wie ein Ballast?«, wobei jene Reste von Kultur, die übrig geblieben seien, ohnehin wenig gelten angesichts von Millionen Menschen, die »verarmt, entblößt, halb oder ganz vernichtet« sind. Brecht gab sich nicht mit dem Argument zufrieden, die öffentlich angewandte Gewalt sei ein Zeichen allgemeiner Verrohung, denn dann komme die Rohheit von der Rohheit, die Barbarei von der Barbarei. Vielmehr zelebriere der Faschismus geradezu einen Kult der rohen Gewalt, des rücksichtslosen Durchgreifens, wie er gleichzeitig Kriegsbereitschaft, Selbstzucht und Opfersinn propagiere und diese als ideale und wahre Kultur im nationalen Sinn hinstelle. Zu fragen sei deshalb nach den wahren Ursachen der Verrohung, die letztlich in den Eigentumsverhältnissen, im nationalen und internationalen Konkurrenzkampf, zu suchen seien. Die Grausamkeiten des Faschismus seien dementsprechend zwangsläufig, sie seien gewollt und nötig. Es wäre deshalb ein Fehler, die immer wieder berichteten Grausamkeiten als unnötig oder übertrieben hinzustellen.
Brecht ging mit diesen (auch heute) beunruhigenden Fragen über den Rahmen der Pariser Konferenz hinaus, die freilich nur ein Anfang sein sollte, was die Selbstreflexion der schriftstellerischen Praxis und vielleicht auch den Begriff der Kultur betraf, die sich keineswegs zwangsläufig als Gegengewicht zum Faschismus definieren konnte. Dazu ist Kultur zu vielfältig und letztlich auch nicht mächtig genug. Doch immerhin hat der Kongress, der den Anstoß zu weiteren Konferenzen (in London, in Madrid und anderen Orten) lieferte, dazu beigetragen, dass sich die Schriftstellerinnen und Schriftsteller ihrer prekären Situation bewusst wurden und sich, wie Anna Seghers im nachhinein feststellte, im weitesten Sinn als Antifaschisten verstehen konnten.
Literatur: Wolfgang Klein (Hg.): Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur. Reden und Dokumente, Berlin 1982
Jürgen Pelzer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 27. Mai 2025 über Friedrich Engels Studie zum deutschen Bauernkrieg.
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