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Aus: Ausgabe vom 19.06.2025, Seite 12 / Thema
Militarismus

Allerorten alldeutsch

Die Traditionen des preußischen Militarismus reichen bis in unsere Gegenwart. Über Staatsräson, unbewältigte Vergangenheit und die Erfolge der AfD
Von Helmut Donat
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Geist der Überhebung und Gewalt. Deutsche Soldaten ziehen in den Krieg, begleitet von einer begeisterten Bevölkerung (Frankfurt am Main, August 1914)

Die Einsicht des deutschen Historikers Friedrich Meinecke über die Ursachen der Entwicklung, die zum Faschismus in Deutschland führte, lautete: Der »preußische Militarismus« hat als die eigentliche »Vorfrucht des Nationalsozialismus« zu gelten. So sahen es in den ersten Jahren nach 1945 viele Autoren – und auch die sowjetische Sicht lag auf dieser Linie. Das änderte sich jedoch vor dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes. Ein Geschichtsbild, das einen Zusammenhang zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg leugnet und ablehnt, wird seitdem von einer großen Mehrheit der deutschen Historiker, Politologen, Journalisten und auch Politiker geteilt. Es ist bis heute nicht überwunden. Der historisch-politische Diskurs über die Frage, welche Lehren aus der deutschen Vergangenheit zu ziehen sind, bleibt um so fragwürdiger und zeigt sich als hochgradig belastet, wenn man den Leidensweg des zivilen Geistes erst 1933 beginnen und nach 1945 abrupt aufhören lässt und sich eben nicht vor Augen führt, was lange vor 1933 der Mentalität und der Menschenverachtung des »Dritten Reiches« entsprach und davon nach 1945 fortwirkte.

Verantwortung übernehmen

Die Gewalt fiel ebenso wenig vom Himmel wie der Hass auf alles Nichtdeutsche und die Neigung zu Bedrohungsängsten und Hirngespinsten. Tief verwurzelte, nicht überwundene »Krankheitserreger« spielen dabei eine herausragende, zugleich oft bestrittene Rolle. Der Einkreisungsspuk aus den Jahren vor 1914 entspricht den aktuellen Phantasiegebilden und Prophetien, wenn heute darüber gestritten wird, wann das putinistische Russland sich zurückerobern werde, was es unter Gorbatschow preisgegeben hat. Vieles deutet darauf hin, dass die »Weltpolitik ohne Weltgewissen«, die Friedrich Wilhelm Foerster vor über hundert Jahren angeprangert hat, unter veränderten historischen Gegebenheiten fröhliche Urständ feiert. Um Humanität ging es bei den Bundeswehreinsätzen in Afghanistan und Mali ohnehin nicht, sondern darum, die nicht nach unseren Regeln spielenden Länder auf einen unseren Vorstellungen entsprechenden Weg zu bringen und der Welt zu zeigen, dass mit uns im Konzert der Mächte zu rechnen ist, ja dass die Deutschen dabei eine möglichst bedeutende Rolle spielen wollen.

Seit einigen Jahren hat sich hierzulande eine Haltung durchgesetzt, die sich an machtpolitischen Politikkonzepten orientiert, die dem verpreußt-neudeutschen Verlangen, Verantwortung in der Welt zu übernehmen, das Wort redet. Wie einst wird vor den »politischen und ethischen Moralisten« gewarnt – vor allem von denen, die alle Moral der Staatsräson unterordnen. Eine Militarisierung des Denkens findet wie nie zuvor seit 1945 statt. Sie zielt darauf ab, möglichst viele zivile Bereiche der Gesellschaft auf einen Krieg einzustimmen. Die Begründung dafür lautet: Indem wir aufrüsten und uns »kriegstüchtig« machen, verhindern wir den Krieg. Das »Si vis pacem, para bellum«, seit jeher Chiffre für ein Weltbild, das dem Feind- und Machtdenken, dem Misstrauen, der Gewalt und dem Schwertglauben das Wort redet, ist wie Phönix aus der Asche auferstanden. Man fragt sich, wie lange es wohl noch dauern wird, bis die Uniform erneut zum »Ehrenkleid« der Nation avanciert.

Die Debatte um eine europäische Weltpolitik unter deutscher Führung ist indes keineswegs neu. In kleinen Zirkeln war davon bereits nach der Wiedervereinigung die Rede. Seit dem Irak- und Jugoslawien-Krieg und mehr noch nach 2014 hat sie – so das »Friedensgutachten 2015« – an Fahrt aufgenommen. Der Ukraine-Krieg 2022 bot sich geradezu an, die Entwicklung hin zu einer Führungsmacht Deutschlands in und über Europa immens zu beschleunigen. Man schickt sich an zu erreichen, was in zwei Weltkriegen misslungen ist. Von außen betrachtet wirkt es, als gäbe es, was die Haltung zu weltpolitischen Problemen betrifft, so etwas wie eine Unwandelbarkeit des deutschen Geistes.

Wie schon in früheren Zeiten stellt sich die Frage: Soll Deutschland gemäß seiner vorbismarckschen Traditionen als ein in der Mitte Europas gelegenes Land Mittler zwischen Ost und West, Nord und Süd sein? Oder soll es sich wie nach 1871 erneut an einer Machtpolitik orientieren, die sich auf Waffen, Feindbild- und Überlegenheitsdenken stützt? Die Pläne der Bundesregierung sehen zumindest vor, die Bundeswehr in baldiger Zeit zur stärksten Armee auf dem europäischen Kontinent zu entwickeln.

Zivile Militaristen

In seiner Schrift »Probleme, Ziele und Grenzen der Geschichtsrevision« (1947) konstatierte der bayerische Historiker Anton Meyer-Pfannholz, Vater von Carl Amery, dass der totale Staat Hitlers in letzter Konsequenz auf eine weit zurückgehende Vorgeschichte verweist, für die das Preußentum und dessen militaristische Staats- und Geistesverfassung (»Großhungern und gehorchen«) Verantwortung trage. Es sei aber ein Trugschluss, so Pfannholz weiter, die Hauptschuld an den Verheerungen, die das Preußentum seit Bismarck in der deutschen Bevölkerung zeitigte, den Militärs schlechthin anzulasten. Vielmehr seien die ärgsten Militaristen eben jene gewesen, die in Zivil auftraten und ihre Parolen und Auffassungen nicht nur am Stammtisch oder in den Zeitungen verbreiteten. Schlimmer noch wirkte der zur pädagogischen Methode erklärte Irrsinn, der im Elternhaus und in den Schulen den heranwachsenden Generationen eingeimpft wurde. Auch an den Universitäten der Weimarer Republik galt das Denken im Sinne der kleindeutsch-preußischen Geschichtsschreibung weiter, was in der Lehre über die politische Geschichte bedeutete, dass gemäß der Auffassung Bismarcks Macht vor Recht gehe und der Krieg eben der »Vater aller Dinge« sei. Zum wissenschaftlichen Prinzip und mit Hilfe des Schulunterrichtes ist solches Gedankengut zum Allgemeingut erhoben und die Jugend im Doppelsinn von Militarismus und Gleichschaltung auf irgendeinen kommenden Hitler vorbereitet und erzogen worden. Was man der Jugend oktroyierte, war letztlich ein moralisches Strammstehen vor dem Staat und seiner militärischen Repräsentation, verbunden mit einem Geist der Überhebung und der Gewalt, gepaart mit Bildungsfeindlichkeit und Geringschätzung von Ethik und Moral sowie einem beispiellosen Glauben an die Macht. Hierher gehört auch die sich an Max Weber orientierende unheilvolle Trennung von »Gesinnungs- und Verantwortungsethik«, an der sich bis heute viele ergötzen und die Friedrich Wilhelm Foerster, gegen den sich Webers Rede »Politik als Beruf« Ende Januar 1919 richtete, zu Recht als »Bankrott moderner Scheinerrungenschaften« bezeichnet und zurückgewiesen hat.

In diesem Zusammenhang erhielt der machiavellistische Begriff der Staatsräson eine neue und hochbedenkliche Rechtfertigung, ausgedrückt in einer besonderen Staatsmoral. Hierzu ist insbesondere zu sagen: Wo die Macht zum Wert an sich erhoben wird, ist der Willkür Tor und Tür geöffnet, oft von Ideologien begleitet und gerechtfertigt, die sich wie Kaugummi oder Kautschuk dehnen lassen und nahezu alles erlauben. So ist der rein nationalpolitische Wertmaßstab in der Variante »Gut ist, was dem deutschen Volke nützt« (oder im Verständnis der Deutschen, einem anderen Volke schadet), grundsätzlich als infam zu verwerfen, weil sich mit ihm alles vereinbaren und begründen lässt, was an Leid und Elend selbst in großem Ausmaß anderen zugemutet wird.

Die Staatsräson, ihre Rechtfertigung und Deutung, hängt aufs Engste damit zusammen, woran sie sich orientiert und in welchem Verhältnis sie zum Machtproblem steht. Für den Historiker Heinrich von Treitschke galt der Satz, »dass das Wesen des Staates zum ersten Macht, zum zweiten Macht und zum dritten Macht« sei. Unter dem Eindruck der Bismarckschen Reichsgründungskriege verschärfte er die Hegelsche Auffassung vom absoluten Geist in die Gestalt des absoluten Staates, dem er die Gewalt über alles zuerkannte, auch über die Kultur. Fortan bewegte sich die deutsche Historiographie in Treitschkes Fahrwasser, und in verdeckter, der Gegenwart angepasster Form wirkt solches »Sendungsbewusstsein« weiter – wenn es zum Beispiel darum geht, den Einfluss und den Ausbau der deutschen Macht in Europa und in der Welt zu erhöhen.

Armee und Staat

Je mehr die Kontinuitätslinie von Bismarck über Wilhelm II. bis Hitler geleugnet wird, um so klarer tritt sie zutage. Da die Basis des preußisch-deutschen Staates auf Gewalt und Erfolg beruhte, war er Weg und Ziel zugleich. Seine Vergötzung führte letztlich zu einer Umwertung aller Werte. Jede tiefere sittliche Legitimation für den Grund des Staates ging verloren. Die Religion und Ethik, das Recht und der Umgang mit anderen Völkern und Interessen sanken herab zum Werkzeug eines Staatswesens, dessen führende Vertreter und Gelehrte selbst die Kultur in ihren Schlepptau nahmen und zur Errungenschaft des Militarismus erklärten. Je größer die vermeintliche Bedrohungslage und das propagandistisch aufgeladene Sicherheitsbedürfnis, desto mehr nahmen militärtechnische Erwägungen den Vorrang vor politisch-moralischen Standpunkten ein. Mahnungen, es mit der Selbstverliebtheit und Selbstüberhebung nicht zu weit zu treiben, wurden in den Wind geschlagen und verächtlich gemacht. Aufrufe zur Selbstbesinnung und -kritik dienten lediglich dazu, die Warner als »üble Stinkgewächse« zu verunglimpfen und die Aushöhlung ziviler Anschauungen voranzutreiben. Kennzeichnend für die Regierungen des Staates war es, natürlich und beständig aufzurüsten, militärtechnische Gesichtspunkte und die damit verbundenen machtpolitischen Aspirationen zu überschätzen. Die Armee war nicht ein Begleitumstand des Staates, sondern das konstituierende Element der Gesellschaft. Ihrem Auftrag hatte alles zu dienen, während andere Bereiche leer ausgingen oder ins Hintertreffen gerieten. Sind wir heute davon weit entfernt?

Daraus ergibt sich, will man nicht zu den Zuständen vor der Katastrophe zurückkehren: Eine deutsche »Staatsräson«, in welchem Gewand sie auch immer auftritt, darf es als Lehre aus der Vergangenheit nicht geben. Sie würde jeden Bürger verpflichten, so zu denken und zu handeln, wie es die den Staat repräsentierenden Mächtigen »räsonierend« vorschreiben. Das Gewissen eines jeden Menschen wäre ausgeschaltet. Die aktuelle Variante der »Staatsräson« mit Blick auf Israel beinhaltet in letzter Konsequenz für jeden deutschen Bürger, das Land, sollte es um dessen Existenz gehen, bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen – egal, was Israel getan hat oder tut und welche Folgen damit verbunden wären. Eine solche »Nibelungentreue« ist eben gerade nicht aus dem »Holocaust« ableitbar.

Vielmehr wäre es nach 1945 darauf angekommen, sich der Ursachen von 1933 und der Wirkungen des Antisemitismus anzunehmen. Das aber ist nicht geschehen. In einem nicht erst heute schwer nachvollziehbaren Ausmaß haben sich die Historiker, Politiker, Journalisten etc. bei der Auseinandersetzung mit den Fehlleistungen deutscher Politik weitgehend auf den Zeitraum von 1933 bis 1945 fokussiert und nicht nach den Zusammenhängen von Kaiserreich und »Drittem Reich«, von preußischem Militarismus und Nationalsozialismus, gefragt oder diese (wie eine Art »Staatsräson«) gebetsmühlenhaft geleugnet. Unkritisch hat man sich an den Traditionen von Weimar orientiert, ohne jemals darüber nachzudenken, welcher Anteil der Weimarer Republik selbst an 1933 zukommt. Wohl hat man sich von den Verbrechen der Nazis distanziert und losgesagt, nicht aber von deren deutschvölkischen Denkmustern. Letztere haben über Jahrzehnte hinweg denn auch in allen großen Parteien weitergelebt und sind – nicht zuletzt auch von Bildungsinstitutionen und den Trägern der öffentlichen Meinung – in einer Weise negiert und verharmlost worden, dass es heute kaum oder nur noch sehr schwer möglich ist, ihrer Herr zu werden, zumal von einer wirklichen Kehrtwende nicht die Rede sein kann. Der Zulauf, den die AfD zur Zeit erhält, ist vor allem eine Folge dieses Vorganges. Es ist ein Fehlschluss, wie der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann zu glauben, die Partei würde den Zuwachs verlieren, wenn die Wirtschaft wieder florieren und sich damit die Unzufriedenheit der Bürger erledigen würde. Linnemann verkennt wie viele andere, auf welchen historisch-politischen Bedingungen und Denkmustern die AfD-Erfolge beruhen.

Stets bedroht

Dass die deutschvölkische Propaganda so gut verfängt, hängt nicht zuletzt damit zusammen, in welch geringem Maße sich die deutsche Nachkriegsgesellschaft mit den Wurzeln der NS-Ideologie auseinandergesetzt hat. So sahen die Vertreter des 1892 gegründeten Alldeutschen Verbandes, von dessen Aktivisten fast zwei Drittel über eine akademische Bildung verfügten, Deutschland von innen wie von außen aufs äußerste bedroht. Mehr als die Hälfte der Mitglieder des Verbandes war im öffentlichen Dienst tätig. Ihm gehörten bekannte Historiker, Naturforscher, viele Professoren sowie Abgeordnete des Reichstags an. Auch der Soziologe Max Weber war ein Anhänger des Alldeutschtums. Er verließ den Verband im Jahr 1899 nur, weil er meinte, dieser setze sich gegenüber den einwandernden Polen nicht konsequent genug für die Reinheit des »Deutschtums« ein und weil die Alldeutschen seinem Verlangen, die Grenzen zu schließen, nicht folgten.

Vor allem betrachtete man das »Deutschtum« schlechthin als gefährdet, wofür man die Sozialdemokraten und Juden, die Mitglieder der Zentrumspartei und die als »Schädlinge« diffamierten Linksliberalen verantwortlich machte und sie allesamt zu »Feinden« des Volkes erklärte. Die Forderungen der Alldeutschen beruhten auf tiefgreifenden Bedrohungsängsten, ganz wie es heutzutage der Fall ist.

Zweifellos ist der Alldeutsche Verband, den »Schwertglauben« und die »Kriegsertüchtigung« hemmungslos propagierend, ein Wegbereiter des NS-Regimes gewesen. Nicht zu Unrecht hat der Historiker Michael Freund die alldeutsche Bewegung als eine »Mutterlauge« charakterisiert, aus der »die großen Narrheiten des Deutschen Reiches im 20. Jahrhundert erwuchsen«, was, für Freund typisch, jedoch mehr als untertrieben ist, handelte es sich doch nicht um »Narrheiten«, sondern um faustdicke Verbrechen.

Mit der alldeutsch-völkischen Ursuppe der NS-Ideologie, die in nationalistischer Enge nichts Fremdes toleriert, undeutsche Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche ablehnt, sich selbst zum Urgrund der Geschichte überhaupt erklärt und daraus ein Untergangsszenarium des Landes schmiedet, ist nie – bei allem, was in der Auseinandersetzung mit der »unbewältigten Vergangenheit« geleistet worden sein mag – wirklich aufgeräumt worden. Irgendwann aber ist es so weit, dass Versäumnisse sich kaum oder nicht mehr einholen lassen.

Die Ewiggestrigen sind nicht ausgestorben, weil man sie hat gewähren lassen und – im Unterschied zu den Opfern, die man unter Beweiszwang setzte – sogar noch gefördert hat. Sie und ihre Nachfolger sind wie gehabt von allen guten Geistern verlassen, kennen keine Gnade für Menschen, die in Schwierigkeiten und Nöte geraten sind und verunglimpfen sie in menschenverachtend-fremdenfeindlicher Weise als »Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse«, die sich in unserem Sozialstaat zu Lasten aller Deutschen einnisten – wie es Alice Weidel am 16. Mai 2018 im Bundestag in »Stürmer«-Manier erklärt hat. Die Hetzrede, von tumultartigen Szenen begleitet, veranlasste Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, ihr einen Ordnungsruf mit der Begründung zu erteilen, Weidel diskriminiere damit alle Frauen, die ein Kopftuch tragen. Schäubles Reaktion ist typisch für die Hilflosigkeit und Unbedarftheit von Leitfiguren der Politik gegenüber dem Marsch der AfD durch die Institutionen. So hat jedwede defensive Haltung gegenüber den Nazis vor 1933 diese eher begünstigt, während ein offensives Auftreten gegen sie dort, wo es im regionalen Bereich angewandt worden ist, zu bedeutenden Erfolgen geführt hat. Auf die Idee, Weidels Ausführungen als faschistisch zurückzuweisen und sie als in der Tradition von Schmähungen der deutschnationalen und der NS-Propaganda stehend zu deklarieren und darauf seinen Ordnungsruf zu gründen, ist Schäuble nicht gekommen.

Bezeichnend auch die Reaktion Weidels auf die Rüge. Sie verbreitete ihre Rede sogleich in den sozialen Netzwerken unter dem Titel: »Dieses Land wird von Idioten regiert!« Auch das ist typisch für die NS-Propaganda. Sie holt zum Gegenschlag aus, um noch eins draufzusetzen, und schiebt die eigenen Fehlleistungen diffamierend ihren Kritikern zu. Mit anderen Worten: Weidel benutzte und benutzt den Bundestag bewusst als Bühne, um ihre hasserfüllten Angriffe auf Asylsuchende und Flüchtende aus Kriegsgebieten zu verbreiten und damit ihren herzlosen und zynischen Anschauungen größere Geltung zu verschaffen.

Dazu passt: Über viele Jahrzehnte hinweg hat man es hingenommen, dass etwa 15 Prozent der Wahlberechtigten über ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild verfügen – und das, wohlgemerkt, im Lande der Judenverfolgung und Judenvernichtung. Der Hinweis auf den Rechtspopulismus in anderen Ländern ist kaum mehr als eine Ausflucht und dient dazu, weiter über die Fehler der Vergangenheit hinwegzusehen. Dass dies auf Dauer nicht gut gehen konnte, darf eigentlich niemanden verwundern. Es fällt uns heute auf die Füße, was aus vordergründigen Motiven lange Zeit bagatellisiert, tabuisiert und unterlassen worden ist. Mit verschärftem Asylrecht und Zurückweisungen an Grenzen wird man die Gefahren, welche der Demokratie drohen, nicht abwenden. Vor allem gilt es, Einsicht zu zeigen in die Irrtümer, sich der Selbsterkenntnis zu stellen und, darauf gründend, eine neue Strategie zu entwerfen im Umgang mit dem nicht Bewältigten, Beiseitegeschobenen und nicht Erschlossenen.

Hass und Gewalt

Ähnlich verhält es sich mit einem weiteren Erbe aus dem Kaiserreich und dem NS-Regime. Beide Gesellschaften waren überwiegend von Hass und Gewalt geprägt. Die Warnungen des Soziologen Wilhelm Heitmeyers vor einer Demokratieentleerung seit 2002 sowie über die zunehmende Gewaltbereitschaft auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft sind nicht wirklich ernst genommen worden, obwohl sie auf seriösen Forschungsergebnissen beruhen. Statt flächendeckende Maßnahmen zu ergreifen oder es zumindest zu versuchen, beließen es die politisch und intellektuell Verantwortlichen bei einem »Weiter so!« – und gingen zur Tagesordnung über.

Als lebten wir in einer verkehrten Welt, sind auch die Regierungsparteien sowie Bündnis 90/Die Grünen von Bedrohungsängsten befallen und propagieren, dass die mehr als dreifach Russland überlegene NATO sich gegen einen drohenden Überfall rüsten, weiter aufrüsten und »kriegstüchtig« machen müsse. Das entspricht der Ideologie des Alldeutschen Verbandes und der Propaganda für die Durchsetzung der Wehrvorlage von 1913, ein riesiges Aufrüstungsprogramm. Auffallend war auch damals, wie sehr man die Fakten ignorierte und einem Einkreisungsphantasma erlag, das mit der Realität nichts zu tun hatte. Dass Kriegstreiberei dabei eine große Rolle spielte, ist nicht von der Hand zu weisen. Doch es gab in der Bevölkerung auch eine Disposition, sich für die lange zuvor proklamierte Verteidigung und für den Krieg zu entscheiden.

Aktuell bewegt sich die Politik der AfD wie die der Regierungsparteien in den Bahnen alldeutsch-machtpolitischer Traditionen. Aus unterschiedlichen Gründen und Motiven, aber es ist eine überaus bedenkliche, furchterregende Mischung, die sich da zusammenbraut. Ein Deutschland mit einem »Doppelgesicht«: Die einen tun so, als müsse das Land, weil durch Überfremdung bedroht, gerettet werden. Die anderen sehen sich von Russland bedroht und halten es für unausweichlich, sich für einen Krieg zu rüsten, damit er nicht stattfindet. Ein deutsches Melodram, das Rainer Werner Fassbinders »Angst essen die Seele auf« (1974) weit übertrifft. Man fühlt sich an Heinrich Heines Klage erinnert: »Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht!« Machen wir’s doch wie er – und nehmen wir uns zu Herzen, was er dem Sinne nach seinen Lesern zurief: »Freunde, wir haben Arbeit bekommen!«

Helmut Donat schrieb an dieser Stelle zuletzt am 20. Januar 2025 über die Kriegsschuldfrage im Ersten Weltkrieg: Die große Lüge.

Siehe zum militaristischen Diskurs rund um den Ukraine-Krieg: Hermann Theisen/Helmut Donat (Hg.): Bedrohter Diskurs – Deutsche Stimmen zum Ukraine-Krieg. Bremen: Donat Verlag 2024.

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