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Aus: Ausgabe vom 06.06.2025, Seite 12 / Thema
Literaturgeschichte

Arzt seiner Klasse

Tödliche Krankheit, Zerfall des Bürgertums, Vereinzelung des Künstlers: 150 Jahre Thomas Mann
Von Felix Bartels
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»Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört einfach Thomas Mann und Brecht« (Peter Hacks)

Ein Merkmal des großen Stilisten? Er geht nicht nachzumachen. Das Ergebnis klänge, selbst wenn es klänge, fremd. Einem Sound, der bloß soundet, fehlt der Unterbau, fehlt die Kraft im Ausdruck, aus der Tiefe geholter Gehalt, feinteiliger Rhythmus des Satzbaus, Musikalität der Sprache, die Zuspielungen des Unbewussten. All das, kurzum, worin sich jenseits des unmittelbar Gesagten die Haltung zur Welt ausdrückt.

Stil ist mehr als Sound, nicht herstellbar durch Nachbildung bestimmter Wendungen, er entsteht durchs äußerste Bemühen, eine Sache auf die bestmögliche Weise zu sagen. Und vorausgesetzt, der imitierte Schriftsteller kann, was er tut, wird dieses Bestmögliche für einen anderen unerreichbar. Jeder Versuch, ihm gleichzukommen, schießt darüber hinaus oder verendet in Parodie. Wer nicht schon am Sound scheitert, scheitert an der Substanz, und wer die Substanz bewältigt, also selbst zum Stil fähig ist, scheitert, weil kein Autor eine andere als die eigene Substanz einbringen kann. Man ist also entweder nicht gut genug oder selbst schon zu gut. Jegliche Dichtung, wo von Dichtung zu reden geht, bleibt individuelle Entäußerung. Von Gedanken, Gefühlen, Erlebnissen – solchen, die man selbst hat, oder solchen, die man für andere hat, doch aus dem eigenen Innern heraus. Vielleicht lässt sich sagen, dass bei allem, was Thomas Mann sonst bedeutet und verkörpert, der Stil seine größte Leistung war.

Nicht der poetische, versteht sich. Der liegt unerreicht vor etwa in Goethes »Ein Gleiches«, Eichendorffs »Wünschelrute« oder in der Lyrik des späten Celan. Wo Sprache zur Partitur wird, viel mehr in sich hinein nimmt als eigentlich hineinpasst. Poesie verdichtet, Prosa entfaltet. Mann war der Meister der Perioden, seine Prosa wirkt nicht allein über den beachtlichen Wortvorrat. Hypotaxe nimmt die Fülle der Gedanken auf, arrangiert sie polyvalent, während Poesie ein Bündel von Ideen im selben Ausdruck verstaut. Hypotaktische Konstruktion wird daher selbst zur Aussage, indem sie neben der veritablen Aussage, die der Autor durch den Inhalt seiner Worte transportiert, durch Anordnung, also Form, die Haltung des Schreibenden vermittelt. Und wie alles in der Kunst muss auch sie gekonnt sein. Es geht um Timing, Rhythmus, Klang und Stellung der Worte. Prosodie ist versteckte Metrik. Sätze von Thomas Mann konnten lang werden, aber sie sind nie langweilig, kompliziert, nicht verwirrend, konstruiert, nicht schematisch. Man taucht in sie hinein, legt eine immense Strecke zurück und hat beim Wiederauftauchen kaum je das Gefühl, gerade so dem Ertrinken entronnen zu sein. Man kann die Gediegenheit, die gedankliche Ruhe bei zugleich stürmischen Impulsen, das Beherrschen des Chaos durch Sublimität, im Werk von Mann nicht nur erlesen, man kann es erhören.

Ohne Zweifel hat das Wort auch Wirkung auf den Schriftsteller selbst. Gediegenheit und Ruhe sind erkämpft, sie wirken als Ergebnis einer Arbeit am Ich zugleich auf das Ich zurück. Wer schreibt, heilt, löst sich vom Läppischen, Zufälligen, von der Verblödung seiner Zeit. Er lagert, mit anderen Worten, indem er ein Werk schafft, diejenigen Teile seiner Persönlichkeit, die er für die besten hält, aus, wodurch er sie zugleich in sich verstärkt. Er lagert ebenso die Anteile aus, die er für seine schlechtesten hält, und indem er sie hinauf gestaltet, integriert und überwindet er sie zugleich. Noch im Keller, noch in Haft oder auf der einsamen Insel gibt es ein Publikum: Wer schreibt, schreibt zunächst mal und vor allem für sich.

Der junge Thomas

Banal beinah zu bemerken, dass Thomas Mann sich zeitlebens in seinen Werken verarztet hat. Krankheit und Tod als seine Leitmotive sind sattsam bekannt. Dass in der physisch-metaphysischen Symbolik auch die Epoche des bürgerlichen Verfalls gespiegelt wurde, ist ebenfalls herausgearbeitet worden. Paul Thomas Mann wird am 6. Juni 1875 in Lübeck geboren. Als zweites Kind von Thomas Johann Heinrich und Julia Mann. Sein vier Jahre älterer Bruder Heinrich wird wie er als Schriftsteller Weltruhm erlangen. 1877, 1881 und 1890 folgen drei weitere Geschwister: Julia, Carla und Viktor. Die Manns gehören zum Lübecker Bourgeoisie-Adel, eine patrizische Dynastie, deren Wurzeln zum Getreidehändler Johann Siegmund Mann zurückreichen, der 1794 das Bürgerrecht der Stadt Lübeck erhielt. Thomas Manns Vater arbeitet als Kaufmann, bis zu seinem Tod 1891 verwaltet er als Senator für Wirtschaft und Finanzen die Stadt. Im Testament verfügt der Vater, dass das Unternehmen und das Haus verkauft werden. Vom Erlös soll die Familie überleben. Dieses Ende des Familienbetriebs und der damit einhergehenden Kultur hat großen Eindruck auf den jugendlichen Thomas gemacht. Zehn Jahre später erscheint der Roman »Die Buddenbrooks«, der den Zerfall einer bürgerlichen Kaufmannsfamilie beschreibt.

Die Schule ist kein Ort für Thomas, seine Noten sind mäßig, die Lust gering, mehrfach bleibt er sitzen. Non vitae sed … Literarisches Genie kann sich dort nicht entfalten. Deutlich mehr Inspiration erhält er von der Mutter, die ihm frühe Bildungserlebnisse vermittelt, insonders Interesse für Musik weckt. Julia steht – »durch die beiden Motive der Musikalität und des Weither-Seins«, im Gegensatz zur gesellschaftlichen Repräsentation des Vaters – für den inneren Kompass des jungen Menschen, psychoanalytisch beinahe überklar. 1894 nimmt Thomas, übergesiedelt nach München, eine Stelle bei einer Feuerversicherungsgesellschaft an, ein Vorgang von Ironie, wie er ihn selbst nicht besser hätte schreiben können. Während dieser Zeit erscheint Manns Debüt, die Novelle »Gefallen«, eine ambivalente Auseinandersetzung mit der Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern. Was Mann ermöglicht, den profanen Job aufzugeben. Er besucht die Technische Hochschule München und veröffentlicht einige Artikel.

Da zu einer Dichterbiographie offenbar ein Aufenthalt in Italien gehört, siedelt Thomas 1896 nach Rom über, sein Bruder Heinrich lebt bereits dort. Die Brüder schreiben gemeinsam ein Buch, das von der vermaledeiten Überlieferungsgeschichte geschluckt wurde, Thomas sitzt an den »Buddenbrooks«. In Rom entstehen auch einige seiner frühen Novellen, darunter »Der kleine Herr Friedemann«. Politisch hält er sich zu dieser Zeit, man darf sagen: rechts, seine Artikel sind von nationalistischem Geist getragen.

1900 tritt er den Wehrdienst an, wird aber nach drei Monaten ausgemustert, nicht ganz so rasch wie sein Felix Krull. Es soll ihm gelungen sein, den Militärarzt zur Diagnose »Plattfüße« zu bringen, was Heinrich Mann später für seinen Diederich Heßling aufgegriffen hat. 1901 werden »Die Buddenbrooks« veröffentlicht, die Thomas bald weltbekannt machen. Es folgen 1903 »Tristan« und »Tonio Kröger«, zwei Novellen, die das Thema der »Buddenbrooks«, Bürgertum in Zerfall und Vereinzelung, variieren. Die Zeit der Entfremdung zwischen den Brüdern beginnt. 1905 heiratet Thomas Katharina Pringsheim, die als »Katia« Mann bis zum Ende an seiner Seite bleibt. Das Paar wird sechs Kinder haben: Erika (1905), Klaus (1906), Golo (1909), Monika (1910), Elisabeth (1918) und Michael (1919).

1909 erscheint Manns zweiter Roman »Königliche Hoheit«, 1911 die Novelle »Der Tod in Venedig«, 1912 folgt Thomas Katia in ein Bergsanatorium bei Davos, wo ihr eine Tuberkulose kuriert werden soll. Hier erhält er die Inspiration für seinen dritten Roman »Der Zauberberg«. Die Arbeit daran wird vom Ersten Weltkrieg unterbrochen. Mann schreibt bis 1918 an seinem Großessay »Betrachtungen eines Unpolitischen«, dessen konservativ-nationalistische Stoßrichtung und Verherrlichung der Einzelgängerei er später – und eigentlich bereits im kommenden »Zauberberg« – revidieren wird. Gleichwohl sind hier die gedanklichen Oppositionen ausgelegt, die sein Denken und Dichten strukturiert und entwickelt haben. »Der Zauberberg« erscheint 1924, sechs Jahre nach den »Betrachtungen«. 1929 wird Thomas Mann mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, interessanterweise nicht für den »Zauberberg«, sondern für »Die Buddenbrooks«.

Politische Revision

1930 geht, auch das ein Zeichen politischer Revision, »Mario und der Zauberer« in den Druck, eine Parabel auf die gespenstische Wirkmacht des Faschismus. Drei Jahre vor der Machtübernahme der Nazis ist die Novelle durchaus auf der Höhe der Zeit. Der böse Zauberer kann nicht anders gestoppt werden denn mit Gewalt. Faschistischer Demagogie, soll das heißen, lässt sich nicht mittels Gegen-Demagogie begegnen. Als Hitler 1933 zum Reichskanzler ernannt wird, hält Thomas Mann sich in der Schweiz auf. Er beschließt, im Exil zu bleiben. In Deutschland erlässt man, angetrieben von Reinhard Heydrich, einen Haftbefehl gegen ihn. Mann übersiedelt nach Frankreich, der erste Teil des Romans »Joseph und seine Brüder« erscheint. 1936 wird ihm die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Seit 1938 lebt er in den USA, wo er 1939 »Lotte in Weimar« schreibt. Von Kalifornien aus spricht er in 25 Radiosendungen »Deutsche Hörer« gegen den Faschismus an. Der vierte und letzte Teil seines »Joseph« kommt 1943. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bleibt Mann zunächst in den USA, seinen Roman »Doktor Faustus« veröffentlicht er 1947. Es wäre mehr witzig denn treffend, diese fiktive Biographie des Tonsetzers Adrian Leverkühn als Geburt des Faschismus aus dem Geiste der Musik zu umschreiben, dennoch scheint hier von der Positionierung der »Betrachtungen eines Unpolitischen« so gut wie nichts mehr übrig. Gerade der Eskapismus, die Vereinzelung des bürgerlichen Intellektuellen, macht den Helden zum Kopflanger des Teufels, zum Beihelfer des deutschen Wesens und des Nationalsozialismus.

Heinrich stirbt 1950 in Kalifornien, wo er unweit von Thomas gelebt hatte. 1949 war er zum Präsidenten der Akademie der Künste in Ostberlin gewählt worden, sein Tod verhindert die geplante Übersiedlung in die DDR. Auch Thomas Mann plant eine Rückkehr, allerdings nicht nach Deutschland. 1952 verfasst er den Roman »Der Erwählte«, dann lässt er sich in der Schweiz nieder. Ein Jahr vor seinem Tod veröffentlicht er den ersten Teil des »Felix Krull«, der zweite wird unausgeführt bleiben. Am 12. August 1955 stirbt Thomas Mann im Kantonsspital Zürich.

Thomas und sein Bruder

Der Mann, zweifellos, war groß. Doch ein Genie, das sich bitten lassen musste. Sein langer Weg ist oft betrachtet worden. Manche Linsen scheinen besser als andere, durch keine sieht man alles. Wichtig ist sein Verhältnis zu Heinrich. Seit ihrer Zeit in Italien waren die Brüder auf Distanz. Literarische und brüderliche Konkurrenz haben eine Rolle gespielt, doch auch politische Differenzen. Der ältere hatte Erfolg als Schriftsteller, mit dem Ruhm des jüngeren konnte er nicht mithalten. Was nicht als Laune des Betriebs hinwegerklärt werden sollte. Thomas war der virtuosere, bessere Erzähler. So sehr die größere Anerkennung Heinrich nervte, so sehr mochte die moralische Strenge Thomas drücken. Er war nicht lediglich der konservativere, sein Schicksal schien, die politischen Erkenntnisse Heinrichs stets mit ein paar Jahren Verzögerung nachholen zu müssen. Politisch betrachtet repräsentiert Heinrich für Thomas das plagende Über-Ich, gegen das er sich schon aus Gründen der Selbstbehauptung hat wehren müssen, wie Heinrich gegen die unübersehbare künstlerische Überlegenheit von Thomas. Marcel Reich-Ranicki hat das Verhältnis der beiden einmal in die Formel gebracht: Wie schwer, Heinrich Mann zum Bruder zu haben, wie schwer, der Bruder von Thomas Mann zu sein.

Mit dem Kaiserreich war Heinrich früh fertig, zunehmende Distanz ist ab der Zeit um 1905/06 erkennbar. Thomas hatte dem Reich 1909 in »Königliche Hoheit« gehuldigt, wenn auch ironisch gebrochen. Im Jahr des Kriegsbeginns, 1914, schrieb Heinrich am »Untertan«, man konnte das Kaiserreich nicht beißender schmähen. 1915 folgt sein »Zola«-Essay, in dem der historisch gemeinte und prophetisch werdende Satz steht: »Demokratie aber ist hier ein Geschenk der Niederlage.« Die heute etwas aus der Mode geratene linke Gewissheit, dass der sittliche Zustand einer Nation schwerer wiegt als ihre Souveränität – auch der Sozialismus Jahrzehnte später wird das Ergebnis einer Niederlage sein –, beeindruckt desto mehr, als im Kriegstaumel des Kaiserreichs großer Mut erforderlich war, sie öffentlich zu äußern. Im selben Jahr 1915 verklärte Thomas Mann in einigen Essays zunächst und schließlich in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« – Antwort nicht zuletzt auf Heinrichs »Zola« – das Deutsche Reich als Körper seiner höchsteigenen grundlegenden Opposition: Geist gegen Politik, Kultur gegen Zivilisation, Seele gegen Gesellschaft, Freiheit gegen Stimmrecht, Kunst gegen Literatur. Für ihn war das alles eins: Der politisierten Gebrauchsschriftstellerei, der demokratischen Durchschnittlichkeit, der geistlosen Tagesgesellschaft setzt sich das deutsche Wesen in seiner idealen Reinheit entgegen. In den »Betrachtungen« taucht Heinrich denn auch auf, in Form des »Zivilisationsliteraten«, der Engagement über Kunst stellt. Das war auf dem Höhepunkt jener Kriegsbegeisterung kühn an jeder Evidenz vorbei gedacht und eigentlich schon im Moment der Publikation wieder verworfen. »Der Zauberberg«, »Mario und der Zauberer« sowie Manns politische Courage gegen den Faschismus bezeugen, wie Thomas eine Entwicklung nachholte, für die Heinrich deutlich weniger Zeit gebraucht hatte. In diese Phase fällt auch die schleppende Versöhnung der Brüder, einfach wurde die Beziehung nie.

Zugleich liegt im Verhältnis der Geschwister eine gewisse Ordnung. Offensichtlich war Thomas’ politische Schwerfälligkeit eine literarische Produktivkraft. Wie Heinrichs politische Klarsicht ihn ebenso offensichtlich beim Schreiben hinderte. Vergleicht man »Untertan« und »Zauberberg«, das scharfsinnige mit dem weisen Werk, fällt auf, wie äußerlich Heinrich seinen Stoff bewältigt. Der Autor hält Distanz zu seinen Figuren, man kann sagen, er verabscheut sie, die Diederich Heßlinge und Napoleon Fischer. Kaum mehr als Karikaturen sind da beschrieben, gnadenlos seziert zwar, doch thesenhaft. Thomas dagegen fand in jeder Grube etwas, das sich hochziehen ließ. Heinrich führte seine Figuren zur Schlachtbank, Thomas entwickelte sie. So mag einem Max von Sydow einfallen, der am Ende von »Citizen X« sagt: »Wenn Sie mir eine Bemerkung gestatten: Sie beide zusammen ergäben eine wunderbare Person.« Offenbar lag in dieser brüderlichen Spaltung etwas Notwendiges, die Epoche schien jene in den »Betrachtungen« apostrophierte Opposition »Kunst gegen Literatur« nur als komplementäres Verhältnis zuzulassen.

Thomas Mann, wäre hier festzuhalten, war nicht groß durch Orientierung. Er war groß durch Entfaltung. Was sich beim Lesen seiner Werke auftut, ist so weit gespannt, dass Raum für Bewegung entsteht. Daher muss es allzu orientiert nicht sein. Zugleich scheint es nicht so beliebig abgesteckt, dass sich x-beliebiges dabei denken ließe. Mann gibt keine einfachen Antworten, eigentlich gibt er gar keine. Was er tut, ist mehr: Er bringt den Leser dazu, Fragen zu stellen. Genauer zwingt er den Leser zu den richtigen Fragen. Zu Fragen mithin, die er selbst zum Zeitpunkt des Schreibens noch gar nicht beantwortet hat. Gewissermaßen ist er, wie unlängst anlässlich des Jubiläums seines »Zauberberg« bemerkt, am eigenen Werk gewachsen.

Zerfallende Klasse

Der Dichter, pflegte man mit Blick auf Erich Kästner zu bemerken, ist ein Seismograph seiner Zeit. Was vom Verfasser des Zeitbilds »Fabian« gilt, gilt für Thomas Mann um so mehr, sein Werk stellt nicht lediglich einen Kommentar der Zeitgeschichte vor, gerade, indem es ins Zeitlose ausschlägt, hält es Wesentliches der Epoche fest. Zum anderen wäre subjektiver und objektiver Geist zu unterscheiden. Manns Inspiration durch die Philosophie Schopenhauers war eine notwendige Bedingung seines Weltbilds, keine hinreichende. Wie oft bei großen Künstlern ist der Zugriff auf die Welt deliberativ. Was der Dichter erspürt, was er gestaltet und auf künstlerische Weise zum Begriff bringt, hätte vielleicht auch von einem anderen Punkt aus geschehen können, in seinem Dichten geht er eine Beziehung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit ein, der er sich nicht verweigern kann, solange sein Bestreben erhalten bleibt, eine in sich schlüssige, psychologisch und gesellschaftlich runde Geschichte zu erzählen. Die innere Logik der Erzählung und die äußere Logik der Welt korrespondieren auf eine Weise, die eigentlich nicht erklärt werden kann. Von Thomas Mann darf man sagen, dass er seine Epoche gestaltet hat – wie ein erfahrener Mediziner, der den Krankheitsverlauf eines nicht zu heilenden Patienten begleitet.

Krankheit ist ein gutes Stichwort. Sie gilt mit Recht als Hauptmotiv in Manns Werk. Im Griechischen liegen die Wörter für Geist und Krankheit nah beieinander, nous und nosos. Bei Mann wird diese Nähe greifbar. Um das zu verstehen, muss man erinnern, wie seine Zuordnung im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts aussah: Geist ist bei ihm dezidiert nicht Politik. Erst die Entsagung von der Praxis schafft die Möglichkeit zur vollen geistigen Entfaltung. Unabhängig davon, dass er die Verwirklichung dieses Anspruchs allen Ernstes im deutschen Wesen zu erblicken meinte, die Zuordnung befremdet auch ohnedies, weil natürlich bei aller Notwendigkeit einer Distanz zwischen Theorie und Praxis ein Bezug beider zueinander erhalten bleiben muss. Nur so kann Politik, nur so kann Geist sich entwickeln. Wer dem je anderen die Vorherrschaft über das je andere einräumt, tötet nicht nur das andere, er tötet auch das eine ab. Beide aber, Theorie und Praxis, verenden ebenfalls, wenn sie sich voneinander absondern. Setzt man, wie Mann, den Gegensatz so scharf, ist Krankheit, jener Zustand, der Handeln bremst bis unmöglich macht, in der Tat die äußerste oder sublimste Form geistiger Tätigkeit. In ihr liegt dann, wie Hans Castorp glaubt, etwas Vornehmes. Dieser Zugriff wirkt befremdlich, doch lässt sich festhalten: Das Motiv der Krankheit will tatsächlich auf die eigentümliche Tätigkeit des Intellektuellen hinaus, auf den Geist, der die Epoche fasst.

Das klingt zugegeben sehr nach l’art pour l’art, nach selbstbewusstem Eskapismus. Übersehen sollte man dabei nicht, dass die Motive Krankheit und Geist gesellschaftlich grundiert sind. In der zweiten Hälfte der »Buddenbrooks« wendet sich Thomas, die Hauptfigur der Erzählung, Schopenhauer zu. Diese Entwicklung steht nicht einfach für sich, sie rekapituliert ebenso einen objektiven Prozess und damit ein weiteres Motiv, das als drittes den anderen beiden, Krankheit und Geist, vorausliegt. Der Zerfall des Bürgertums, das Ende des fin de siècle, der Beginn des imperialistischen Zeitalters, machen gesellschaftlich betrachtet das Hauptthema des Mannschen Werks aus. Über dem Eingang des Familienhauses der Buddenbrooks steht der Satz: Dominus providebit, der Herr wird vorsorgen. Die Formel, inspiriert von der biblischen Abraham-Geschichte (Gen. 22,8), kann theologisch oder sozial verstanden werden, im Sinne der segensreichen Wache Gottes über das Wohl der Familie oder ihrer patriarchalisch-arbeitsamen Führung durch ihr männliches Oberhaupt. Auf den Zerfall der bürgerlichen Blütezeit bezogen geht beides verloren: Das traditionelle Bürgertum stirbt aus (die gesegneten Zeiten sind vorbei), und die patrizische Familie verliert den Versorger. Die Buddenbrooks fallen unter den Bedingungen der neuen Zeit auseinander. Der hedonistische Christian versinkt in weinerlicher Hypochondrie, die schwungvoll eigenwillige Tony wird ehelich eingenordet, der tüchtige Thomas regrediert in schopenhauerscher Innerlichkeit.

Im zwei Jahre später erschienenen »Tristan« wird dieser Zerfall der bürgerlichen Klasse erneut, und diesmal auf groteske Weise, gespiegelt. Detlev Spinell ist ein empfindsamer Schriftsteller, dessen geistige Kraft am besten damit umrissen ist, dass ihm beim Anblick schöner Dinge buchstäblich nicht mehr als »Schön!« einfällt. Er wird konfrontiert mit dem Unternehmer Klöterjahn, dessen Geistlosigkeit ganz offensichtlich ist. Vergeistigte Kraftlosigkeit trifft auf geistlose Kraftmeierei. Geist und Produktivität des Bürgertums gehen nicht mehr zusammen. Im »Zauberberg« fächert Mann den Zerfall der Klasse weiter auf. Hier treffen der brave Ziemßen (Disziplin ohne Kraft) und der einfältige Peeperkorn (Kraft ohne Disziplin) aufeinander, und auf der intellektuellen Ebene in Settembrini der »Zivilisationsliterat«, der den Rückzug vom gesellschaftlichen Leben in einem rigoros humanistischen Ideal verleugnet, und Naphta, dessen Eskapismus in offenen Nihilismus umgeschlagen ist. Der zunächst eskapistische, später destruktiv bis gemeingefährliche Intellektualismus als Abfallprodukt der sich aufspaltenden bürgerlichen Klasse wird Thomas Mann, wie erwähnt, auch späterhin interessieren, im »Faustus«. Dort zeichnet er ein Ende jenes Prozesses, der mit Vereinzelung beginnt. »Der Tod in Venedig« lässt sich ebenfalls in diese Linie ordnen, Krankheit und Tod des Schriftstellers Gustav von Aschenbach bestimmen das Geschehen. Bei Mann stirbt das vereinzelte Genie, oder es fällt ins Archaische zurück – und stirbt dann.

Die heitere Seite

Während Leverkühn und Aschenbach das Thema des abgesonderten Genies auf der düsteren Seite ausleuchten, hat Mann den Komplex auch von der heiteren Seite angepackt. Man kann ja ein und denselben Stoff komisch oder tragisch verarbeiten, die Athener Dramatiker haben ihre Tetralogien stets mit einem Satyrspiel komplettiert. »Felix Krull« erzählt die lustige Geschichte eines Hochstaplers. Der Schaumschläger Felix ist Sohn eines Schaumweinfabrikanten. Auch Täuschung ist ein Talent, im Grunde ist der Künstler ein (gesellschaftlich anerkannter) Hochstapler. Der zweite Teil des »Krull«, wie gesagt, existiert nicht, kaum vorstellbar aber, dass er mit dem Tod des Helden hätte enden sollen.

Fast unanständig kraftvoll ist auch die Tetralogie um »Joseph und seine Brüder«, ein Versuch, jene Stammvatergeschichte auszuwalzen, die die Bibel recht flott hinwegerzählt. Joseph ist begünstigt gegen seinen Stand. Obgleich nicht erstgeboren, wird er von seinem Vater Jaakob bevorzugt, weil ihn die favorisierte Rahel zur Welt gebracht hat. Dieses Verhältnis in der Familie wird in der folgenden Lebensgeschichte gesellschaftlich wiederholt und gespiegelt. Joseph, begünstigt durch Begabung und Schönheit, eitel und arrogant zum andern, wird von seinen neidischen Brüdern überwältigt und in die Sklaverei verkauft. Er muss sich gesellschaftlich den Stand, den er in der Familie innehatte, neu erarbeiten. Insoweit das der Normalbiographie aller durch Begabung, aber nicht durch Geburt Begünstigten entspricht, sich selbst also im Leben beweisen zu müssen und die Anerkennung nicht sogleich zu haben, spiegelt sich in Josephs Heldenreise auch das Nichtstandesgemäße der familiären Situation: Er kommt als Sklave nach Ägypten, steigt durch Leistung auf, fällt in Ungnade und obsiegt als Traumdeuter und kluger Ökonom endlich doch. Wie sein Großvater Isaac (der Ismael verdrängt) und sein Vater Jaakob (der Esau übers Ohr gehauen hat) erhält er Status durch Umtriebe. Am Ende kehrt er als Ernährer zurück, wodurch der windige Beginn seines Wegs – Betrug, Täuschung, Manipulation – sublimiert wird.

Auf Felix und Joseph setzt sich noch ein weiteres Motiv, das der jugendlichen, stets knabenhaften Schönheit. Es ist auch in Tadzio (»Tod in Venedig«) oder Hans Hansen (»Tonio Kröger«) ausgelegt. Auf der persönlichen Ebene hat Mann darin sein sexuelles Begehren vergegenständlicht. Auf der geistigen Ebene dem Sujet Alter-Geist-Tod ein unverwüstliches Gegengewicht geschaffen. Gesellschaftlich stehen die knabenhaft-wunderschönen Figuren für eben das, was dem sich künstlerisch vereinzelnden Bürgertum abhanden gekommen ist: Kraft und Resilienz. Tadzio und Hansen, indem sie sich dem Geistigen entgegensetzen, Krull und Joseph, indem sie am Geistigen (noch etwas) Anteil haben, aber bereits in besonderer Form, die ihrerseits jene Trennung bereits ausdrückt.

Felix Bartels schrieb an dieser Stelle zuletzt am 31. Mai 2025 über die Star-Wars-Serie »Andor«.

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