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Aus: Ausgabe vom 31.05.2025, Seite 8 / Ansichten

Unstillbarer Heißhunger

Debatte über Arbeitszeitverlängerung
Von Daniel Bratanovic
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Die Nation wankt, und soll sie nicht umfallen, bedarf es einer kollektiven Kraftanstrengung, einer Bereitschaft zu Einsatz und Verzicht. Der Kanzler, das riecht leicht modrig nach Kaiserzeit, Adenauer-BRD und den tausend Jahren, die dazwischen lagen, verlangt von seinen Staatsbürgern mehr von dem, was dieses Land einmal ausgezeichnet haben soll: »Leistungsbereitschaft, Fleiß, Anstand«. Mit Viertagewoche und Work-Life-Balance nämlich könne der bedrohte Wohlstand nicht bewahrt werden. Die Hängemattenjahre sind vorbei. Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt.

Doch beim bloßen Appell an patriotische Arbeitsmoral und nationale Verzichtsethik der Deutschen bleibt es nicht, die Regierung legt die Axt ans Arbeitsrecht. Der Koalitionsvertrag sieht eine Entgrenzung des Arbeitstags vor, der Achtstundentag, eine Errungenschaft der gescheiterten Revolution von 1918, soll weichen. Gewerkschaften protestieren, ihr wissenschaftlicher Apparat macht auf Risiken für die psychische und körperliche Gesundheit aufmerksam: vermehrte Unfallgefahr, Burnout, Schlaganfall, Krebs.

Begründet wird die Gängelei zu mehr Plackerei, die den früheren Tod verspricht, also mit der Behauptung, es werde zuwenig gearbeitet. Für wen? Gemessen woran? In Wahrheit hat eine gesellschaftliche Arbeitszeitverkürzung gar nicht stattgefunden, das gesamte Arbeitsvolumen in der Bundesrepublik ist in den vergangenen 20 Jahren stark gewachsen, die Summe der Arbeitsstunden aller Beschäftigten war seit 1990 nie so hoch wie im Jahr 2024. Wahr ist aber auch, dass die Arbeitszeit pro Kopf im Durchschnitt gesunken ist. Mehr Menschen als zuvor sind erwerbstätig, und mehr Menschen als zuvor arbeiten in Teilzeit, vor allem Frauen.

Hieran setzt nun die laufende Debatte der Auguren, Adepten und Apologeten des Kapitals an: Da ist noch Luft nach oben, jeder einzelne kann noch mehr arbeiten. Dabei ist es nur ein scheinbarer Widerspruch, dass derzeit Überproduktion herrscht, also gemessen an der Nachfrage zu viel gearbeitet wird, und Unternehmen, etwa in der Automobilindustrie, Arbeiter zu Tausenden aus ihren Werken stoßen. Denn die Ziele sind seit 150 oder 200 Jahren noch stets die gleichen geblieben: erstens die absolute (länger arbeiten) und relative (produktiver, also intensiver arbeiten) Mehrwertrate erhöhen, zweitens das Arbeitskräfteangebot vergrößern, um Druck auf die Löhne auszuüben (Reservearmeemechanismus).

Der Heißhunger des Kapitals nach Mehrarbeit ist unstillbar, er ist ihm, dem Kapital als gesellschaftlichem Verhältnis, in seinen genetischen Code eingeschrieben, der Staat des Kapitals schafft dafür die rechtlichen Bedingungen. Im antagonistischen Verhältnis von Kapital und Arbeit ist der Kampf um die Arbeitszeit ein Dauerbrenner, vorausgesetzt natürlich, die eine Seite ist noch fähig und willens zu kämpfen. Als man in der Gewerkschaft noch Marx las, sprach man nicht nur über Gesundheitsrisiken.

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