Imperiale Erinnerungskultur
Von Philipp Müller
Mit der scheidenden Ampelregierung hat sich nach Jahrzehnten »kolonialer Amnesie« ein fundamentaler Paradigmenwechsel in der deutschen Kulturpolitik vollzogen: Mit aufwendig inszenierten Restitutionen, Rückführungen von Knochen der »Ahnen« der Kolonisierten, oder auch mit Entschuldigungen im Namen eines deutschen »Wir«, hat die Aufarbeitung »unserer« kolonialen Vergangenheit begonnen.
Die noch amtierende Kulturministerin Claudia Roth sah in der Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus nicht weniger als eine »Zukunftsfrage« und postulierte im Rahmen ihrer ersten Auslandsreise nach Amtsantritt 2021 in Paris: »Es ist an der Zeit für eine echte Dekolonialisierung des Denkens – diesen Prozess müssen Europas Museen aktiv vorantreiben.«
Damit hat sich der deutsche Staat eine Forderung angeeignet, die bisher nur in aktivistischen Kreisen beheimatet war und daraus ein kulturpolitisches Programm entwickelt, das sowohl die »Erinnerungskultur« um den Kolonialismus ergänzt als auch eine Zäsur in der politischen Behandlung afrikanischer Länder wie Namibia darstellen soll. Dies in einer Zeit, in der Afrika wieder als Rohstofflieferant in den Vordergrund rückt. So vermerkte das Handelsblatt im November 2022: »Der Ukrainekonflikt hat auch den Blick auf den rohstoffreichen Kontinent verändert. Spätestens seit dem russischen Angriffskrieg und der Suche nach alternativen Energie- und Rohstoffquellen rückt Afrika immer stärker in den Fokus.« Trotz begrüßenswerter Rückführungen von Gebeinen und im kolonialen Kontext angeeigneten Objekten muss daher die Frage gestellt werden, was »dekolonial« in diesem Zusammenhang eigentlich bedeutet, wenn nicht die Überwindung der Ausbeutung des globalen Südens.
Neue deutsche Kulturpolitik
Emmanuel Macrons geschichtsträchtige Rede an der Universität von Ouagadougou im Jahr 2018 rückte die koloniale Aneignung des afrikanischen »kulturellen Erbes« zeitweilig in den medialen Mittelpunkt in Europa und kündigte einen grundlegenden Wandel der französischen Afrikapolitik an. Während Macron allerdings in seiner Rede das K-Wort vermieden hatte, ging die deutsche Ampelregierung in ihrem Koalitionsvertrag von 2021 weiter. Dort wurde im Kapitel »Erinnerungskultur« auch der Unterpunkt »Koloniales Erbe« aufgelistet und Folgendes angekündigt: »Um die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte voranzutreiben, unterstützen wir auch die Digitalisierung und Provenienzforschung des kolonial belasteten Sammlungsgutes und dessen Zugänglichmachung auf Plattformen. Im Dialog mit den Herkunftsgesellschaften streben wir Rückgaben und eine vertiefte ressortübergreifende internationale Kooperation an. (…) Unsere Kulturpolitik leistet einen Beitrag für eine gemeinsame Zukunft zwischen Europa und Afrika. Wir schaffen ein Sonderprogramm ›Globaler Süden‹. Wir wollen koloniale Kontinuitäten überwinden, uns in Partnerschaft auf Augenhöhe begegnen und veranlassen unabhängige wissenschaftliche Studien zur Aufarbeitung des Kolonialismus.«
Im Koalitionsvertrag wurden somit zwei zentrale Ziele der neuen Kulturpolitik definiert: erstens die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte und ihre Inklusion in die deutsche Erinnerungspolitik. Und zweitens die Erneuerung der Beziehungen zwischen Europa und Afrika, die nun als »Partnerschaft auf Augenhöhe« gestaltet werden und dadurch eine »gemeinsame Zukunft« ermöglichen soll. Dabei wurden Wissenschaft und Provenienzforschung finanziell unterstützt, um besonders die Herkunfts- und Aneignungsgeschichte kolonialer Museumssammlungen zu erforschen und Restitutionen durchführen zu können.
Die Provenienzforschung hat seither Fortschritte gemacht und die Aufarbeitung der musealen Kolonialgeschichte hat neben der Konkretisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen zu manchen Restitutionen geführt, wie etwa der medienwirksamen Rückgabe der Benin-Bronzen nach Nigeria im Dezember 2022. Im November 2023 entschuldigte sich Frank-Walter Steinmeier zudem für die Kolonialherrschaft in Tansania.
Bemerkenswert ist dabei, dass sich dieses Vorhaben gar nicht spezifisch an den deutschen Kolonien orientiert, sondern schlicht auf ganz Afrika als solches. Der deutsche Kolonialismus in China, Samoa oder Mikronesien wird dabei nicht erwähnt. Statt dessen werden die umfangreichen Interessen der deutschen Regierung in Afrika im Koalitionsvertrag im Rahmen einer »Verantwortung Deutschlands für Europa und die Welt« dargelegt: »Die afrikanischen Staaten und Europa sind historisch eng miteinander verbunden. Für die Zukunft streben wir mit Afrika eine enge Partnerschaft auf allen Ebenen an, bilateral und im Rahmen einer kohärenten EU-Afrika-Strategie. Die Zusammenarbeit mit der Afrikanischen Union sowie den afrikanischen Regionalorganisationen bauen wir aus. Frieden, Sicherheit, Wohlstand, nachhaltige Entwicklung, Gesundheit, der Einsatz gegen die Folgen der Klimakrise und die Stärkung von Multilateralismus sind Schwerpunkte unserer Zusammenarbeit.«
Auf diese Weise soll der Kolonialismus als Teil der deutschen Vergangenheit anerkannt und »aufgearbeitet« werden, um der Rolle als »Verantwortungsträger« gegenüber Afrika und der Welt gerecht zu werden. Mit diesem neuen Sendungsbewusstsein wird die Durchsetzung politischer, militärischer und ökonomischer Interessen in Afrika forciert.
Die koloniale Heimsuchung
Die Kolonialgeschichte in Deutsch-Südwestafrika hat insbesondere wegen des Genozids von 1904 an den Ovaherero und Nama sowie der vernichtenden Unterwerfung weiterer Gruppen eine besondere Brisanz. Als sich Bismarck 1884 entgegen ursprünglicher Ablehnung dafür entschied, den Landkauf des Bremer Kaufmanns Adolf Lüderitz unter Schutz des Deutschen Kaiserreichs zu stellen, war unklar, ob sich aus dem »Schutzgebiet« eine rentable Unternehmung machen ließe. Da Funde von Edelmetallen auf sich warten ließen und die Einheimischen – vornehmlich die Ovaherero – erfolgreich eine extensive Viehwirtschaft betrieben, stellte der von Bismarck beauftragte Kaiserliche Kommissar Heinrich Göhring den Plan auf, eine von deutschen Siedlerbauern dominierte Viehwirtschaftskolonie aufzubauen, welche für den Weltmarkt produzieren würde. Dazu musste aber die einheimische Bevölkerung enteignet und das dafür notwendige Gewaltmonopol über das weite, wüstenreiche Territorium geschaffen werden. Die Einheimischen sollten als homogenes Proletariat den deutschen Siedlern untergeordnet werden, weshalb es sowohl aus ihren subsistenzwirtschaftlichen als auch aus bis dahin teils noch bestehenden sklavenähnlichen Abhängigkeitsverhältnissen gelöst werden musste. Damit einher ging eine fundamentale Umwälzung und Zerstörung der einheimischen Lebenswelten.
Aufgrund der ausufernden Besitzansprüche und des rassistischen Herrengebarens der Siedler kam es schließlich ab 1904 zu einem Aufstand erst der Ovaherero, dann der Nama. Deren Niederschlagung mündete nicht nur in einen Genozid, sondern etablierte auch das deutsche Gewaltmonopol in der Kolonie. Die Einheimischen in der Region waren nicht nur entmachtet und enteignet, sondern teilweise fast ausgerottet worden. Dabei wurden auch erstmals Konzentrationslager gebaut, in denen die Gefangenen im Zuge brutaler Zwangsarbeit zu Tausenden zu Tode kamen. Eines der berüchtigtsten Lager wurde auf der »Haifischinsel« (Shark Island) vor Lüderitz errichtet, wo die Fluchtmöglichkeiten gering waren.
Im Zuge des Ersten Weltkriegs verlor das Kaiserreich schließlich all seine Kolonien und ein »Kolonialrevisionismus« setzte ein, welcher die Rückerlangung der Kolonien propagierte. Auch wenn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Nostalgie für ein Wiedererlangen der Kolonien langsam abebbte, lehnte die Nachkriegsregierung die Anerkennung des Genozids lange ab. In den Jahren 1989 und 2004 erließ der Bundestag Beschlüsse, die aufgrund des Genozids eine besondere »Verantwortung« für Namibia in Bezug auf die Entwicklungspolitik ableiteten, was indes keineswegs zu Entschädigungen führen sollte. 2002 reichte Kuiama Riruako, Anführer der Ovaherero, eine Klage gegen Deutschland vor einem US-Gericht ein, die allerdings scheiterte. Bei einer Gedenkveranstaltung zum 100. Jahrestag der Niederschlagung des Ovahereroaufstandes kam es 2004 zu einer Entschuldigung durch die Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, die später von offizieller Seite wieder zurückgenommen wurde.
Erst 2015 bis 2021 wurde schließlich ein Versöhnungsabkommen verhandelt, das auch dadurch vorangetrieben worden war, dass die Verurteilung des Völkermords der Türkei an den Armeniern mit dem Hinweis auf die deutsche Ignoranz »ihrer eigenen Geschichte« gegenüber beantwortet wurde.
Was die Rückgabe von Museumssammlungen oder menschlichen Gebeinen betrifft, die im Rahmen des Kolonialismus in die Museen des Kaiserreichs gelangten und als koloniales Erbe in riesigen Depots vor sich hindämmern, wurden Nachfragen aus dem globalen Süden lange weitgehend ignoriert. Zwar haben die ethnologischen Museen in den letzten Jahrzehnten im Rahmen einer langwierigen und aufwendigen Provenienzforschung begonnen, proaktiv die Kolonialgeschichte ihrer Sammlungen aufzuarbeiten, aber letzten Endes sind die Museumsobjekte rechtlich Eigentum des jeweiligen Landes und ohne dessen Zustimmung nicht zurückzuführen. Die grundsätzlich ablehnende Haltung des deutschen Staates gegenüber Rückführungen und Restitutionen hat sich inzwischen gewandelt. Dabei sind in Bezug auf Namibia beispielsweise eine »Repatriierung« menschlicher Überreste im Jahr 2018 zu erwähnen, die Rückgabe der Wittbooi-Bibel an die Nachfahren des Namaführers Hendrik Wittbooi in 2019 oder die Restitutionen verschiedener Objekte aus dem ethnologischen Museum Berlin nach Namibia im Jahr 2022.
Antiimperialistische Aura
Was die museale Dekolonialisierung in Bezug auf das Selbstbild Deutschlands politisch zu bedeuten hat, zeigt sich am Beispiel der Rückführung von Gebeinen nach Namibia im Jahr 2018. In ihrer Rede bei der Zeremonie sagte Staatsministerin Michelle Müntefering: »Doch wir Deutschen bekennen uns zu unserer historisch-politischen, aber auch zu unserer moralisch-ethischen Verantwortung und zu der historischen Schuld, die Deutsche damals auf sich geladen haben. Die damaligen im deutschen Namen begangenen Greueltaten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet würde, auch wenn dieser Begriff erst später mit rechtlichen Normen unterlegt wurde.«
Die Veranstaltung reduzierte sich hier nicht auf die Ebene einer selbstlosen Rückgabe der Gebeine an die Nachfahren – sie wurde als Akt zwischenstaatlicher Diplomatie verhandelt. So führte die Ministerin weiter aus, dass Stoßrichtung und der Versöhnungsgedanke des Aktes »auch für Deutschland und Namibia gelten – gemeinsam in eine Richtung gehen. Ich wünsche mir: Diese Richtung heißt Zukunft«.
Die Ministerin knüpfte hier an das emblematische Schema der »Erinnerungspolitik« an: Dabei wird im Blick auf die Geschichte durch die nationale Brille ein »Wir (Deutschen)« beschworen, das jegliche soziale wie auch historische Differenzierung zwischen verschiedenen Akteuren der kaiserdeutschen Klassengesellschaft von 1884 und der heutigen Bundesrepublik Deutschland transzendiert.
Im nächsten Schritt wird dieses überhistorische deutsche »Wir« mit Blick auf die Kolonialgeschichte als ein mit einer »historisch-politischen« wie auch »moralisch-ethischen« Kollektivschuld belastetes Subjekt entdeckt. Diese Art der »Vergangenheitsbewältigung« ist nicht als kritische Analyse der Kolonialgeschichte aufzufassen, die ergeben würde, dass dort gar kein überhistorisches Geistersubjekt namens »Wir« gewütet hat, sondern der Imperialismus eines Vorgängerstaates der Bundesrepublik und einer nationalistischen Kolonialbewegung. Diese »Ungenauigkeit« ist dabei kein Irrtum, sondern verweist auf den Zweck der Erinnerungspolitik. So wird im dritten Schritt die Schuld, die sich dieses überhistorische Kollektiv aufgeladen haben soll, gleichsam getilgt. Insofern ist dies nur bedingt ein Fortschritt zur vorherigen »kolonialen Amnesie«.
Denn nun wird zwar der Genozid anerkannt und im Zweifelsfall auch »Wiedergutmachung« in Sachen Geld und Kultur geleistet. Doch wird damit nicht nur der Kolonialismus »aufgearbeitet und erledigt«, sondern der deutsche Imperialismus als solcher in die Vergangenheit verbannt, wo er nun, als kontrastierendes Antisymbol aufgebahrt, die moralische Erhebung der Bundesrepublik über ein weiteres dunkles Kapitel »seiner Geschichte« demonstriert. Durch die Instrumentalisierung des kolonialen Imperialismus seines Vorgängerstaates umgibt sich der heutige Staat mit einer antiimperialistischen Aura. Aus dem unter dem deutschen Gewaltmonopol zusammengefassten Zwangskollektiv »Volk« wird eine geläuterte Schicksalsgemeinschaft mit gemeinsamer Geschichte. Damit wäre der erste Zweck benannt: Gründe zu liefern, warum man für ein Kollektiv sein soll, dem man ohnehin ungefragt untergeordnet ist, und Belege dafür, zu einer Moralgemeinschaft zu gehören, für die es sich lohnt Opfer zu bringen, um so ostentativ einen deutschen linksliberalen Patriotismus zu aktualisieren.
Eine deutsche Höherwertigkeit wird nun nicht mehr als vermeintlich überlegenes, »Kulturvolk« beansprucht, sondern als Vorbild in Sachen Moral, das sich eben durch die Anerkennung der »kulturellen Identität« afrikanischer Nationen auszeichnet und zumindest offen hält, ob eine kulturrassistische Verachtung für andere Nationen angebracht ist. Deutschland steigt zum moralischen Richter über »eigene« und fremde imperialistische Untaten auf und wird zum Vorbild, an dessen »Wesen die Welt genesen« kann. Wieder einmal.
Die AfD störte sich ganz prinzipiell an diesem »Schuldkult«. Allerdings nicht aufgrund des nationalistisch-legitimatorischen Blicks auf die Geschichte, den sie ja teilt. Sie kritisiert beispielsweise an den Restitutionen, dass die Regierung Deutschland »blamiert und der Demütigung preisgegeben« hätte und in ihrem »kulturellen Selbsthass moralische Größenphantasien« befriedigen würde. Die Partei entdeckte bereits in diesem Beharren auf »unseren« vergangenen Fehlern die mangelnde Bereitschaft zur Vaterlandsliebe. Die AfD sah in ihrem nationalistischen Wahn nicht, dass die Ampelregierung mit dem Schuldeingeständnis einen gar nicht so selbstlosen Zweck verfolgte. Dass gerade mit dieser Art der Erinnerungspolitik nicht nur eine Ehrenrettung betrieben, sondern Deutschland als moralische Macht ausgerufen werden sollte, können die Rechten nicht nachvollziehen.
»Versöhnung« mit Namibia
Das kulturpolitische Programm der »Dekolonialisierung« hat eine zweite zentrale Dimension, die im Rahmen der Verhandlungen zum Versöhnungsabkommen von 2021 vom damaligen Außenminister Heiko Maas explizit angeführt wird: »Im Lichte der historischen und moralischen Verantwortung Deutschlands werden wir Namibia und die Nachkommen der Opfer um Vergebung bitten. (…) Gelebte Versöhnung kann nicht dekretiert werden. (…) Die Anerkennung der Schuld und unsere Bitte um Entschuldigung ist aber ein wichtiger Schritt, um die Verbrechen aufzuarbeiten und gemeinsam die Zukunft zu gestalten.«
Die Subjekte der Versöhnung waren auch hier wieder die beiden Staaten. Sie haben sich über den Umgang mit der »gemeinsamen Geschichte« verständigt, der in der offiziellen Anerkennung des Genozids besteht. Mit der Zahlung von 1,1 Milliarden Euro an Entwicklungshilfe für den namibischen Staat wurde »den Deutschen vergeben« und weitere Ansprüche sind getilgt. Alle weiteren Berechnungen gegenüber Namibia gelten nun als Wahrnehmung der »historischen Verantwortung« gegenüber Namibia und haben den Charakter einer »Partnerschaft auf Augenhöhe«. So erhält die Regierung einen neuen paternalistischen Legitimationstitel für die Durchsetzung ihrer politökonomischen Ansprüche in Afrika und speziell in Namibia. Aktivistinnen und Aktivisten aus den Reihen der Ovaherero und Nama sowie weiterer Gruppen kritisierten hingegen, dass sie am Versöhnungsabkommen nicht richtig beteiligt wurden.
Für sie kann eine Aussöhnung zudem nur auf Basis einer materiellen Wiedergutmachung geschehen, welche die Nachfahren der damaligen Ovaherero und Nama aus ihrer postkolonialen Armut befreit. Die Ursachen ihrer heutigen prekären Situation liegen unter anderem im deutschen Kolonialismus und der damaligen Enteignung von Land und Vieh. Auch andere Gruppen wie die San und Damara sehen den Prozess kritisch und erheben Ansprüche auf Reparationszahlungen und eine Umverteilung des Landbesitzes. Tatsächlich hat der namibische Staat nicht nur Territorium und Gewaltmonopol, sondern auch die Institution des kapitalistischen Privateigentums vom kolonialen Vorgängerstaat übernommen. So findet auch die Versöhnung zwischen Namibia und Deutschland unabhängig von den materiellen Ansprüchen vieler Aktivistinnen und Aktivisten statt und die Reparationszahlungen werden ohnehin nur in Form von Entwicklungshilfe an den Staat geleistet.
Ethischer Imperativ
Seit 2021 verfolgt die namibische Regierung den Plan, sich als Produzentin für grünen Wasserstoff zu etablieren und so auch vom »Scramble for Green Hydrogen«, dem Wettlauf um grünen Wasserstoff, zu profitieren. Aufgrund der hohen Verschuldung ist sie dabei aber auf externes Kapital angewiesen. Im Rahmen des ab 2025 anlaufenden Projektes »Hyphen« soll im Tsau-||Khaeb Nationalpark sowie in und um die Städte Lüderitz und Aus eine Industrieanlage zur Produktion von zunächst rund 350.000 Tonnen grünen Wasserstoff pro Jahr aus dem Wüstensand hochgezogen werden, welcher dann mit Hilfe von Solarenergie zu Ammoniak verarbeitet und dadurch transportfähig gemacht wird. Maßgeblich beteiligt an der Durchführung des Projektes ist dabei das deutsche Unternehmen Enertrag. Das Energieprojekt bindet Namibia in die von Deutschland angestrebte globale Energiewende ein. Als Ziele der deutschen Wasserstoffaußenpolitik bestimmte Heiko Maas in seiner Rede zur Eröffnung des »Berlin Energy Transition Dialogue« 2021: »Klimaneutralität ist mehr als nur eine Frage von Windrädern, Elektroautos und Ladesäulen. Es geht auch um die Verschiebung globaler Machtverhältnisse, um Energiesicherheit, die Umstrukturierung von Handelsströmen und um die Sicherung von Wasser- und Nahrungsmittelzugang.«
Der Nutzen für Deutschland besteht im Erreichen von Energiesicherheit, einer souveränen Unabhängigkeit in Sachen Energie im Kontext geopolitischer Machtkonkurrenz. Der Wasserstoff soll dementsprechend einen Beitrag zur Diversifizierung der Energiequellen leisten, was auch die Verhandlungsmacht auf Seiten der produzierenden Staaten vermindert. Wie aber Wirtschaftsminister Robert Habeck anlässlich seiner Reise nach Namibia zu Protokoll gab, will Deutschland im Rahmen von Hyphen den afrikanischen Ländern nun »anders als China« auf »Augenhöhe« begegnen: »Alles, was in Namibia passiert, geschehe in erster Linie für die Menschen, erklärte Habeck. (…) Und was dann, ganz am Ende noch übrigbleibe, wolle Deutschland gern nehmen. (…) So zu handeln, sei ein ›ethischer Imperativ‹.«¹ Wofür aber ein auf Tourismus und Ressourcenverkauf festgelegtes Land mit einem so niedrigen Wirtschaftswachstum wie Namibia die ganze Energie verwenden sollte, lässt Habeck offen. Vor allem aber macht Habeck nun Gebrauch vom neuen, dekolonialen »ethischen Imperativ«, der gegenüber Namibia Pflicht sei und die Einbeziehung von Staat und Volk in Deutschlands Interessen als »Dienst für die Menschen« legitimiert.
Von Seiten der Zivilbevölkerung wurde Kritik am Projekt aufgrund unklarer Folgen für die Umwelt und der drohenden Überbauung von kolonialen Gräbern und Konzentrationslagern laut. So soll Hyphen teils auf den verschütteten Resten des Konzentrationslagers auf Shark Island gebaut werden.
Soft Power
Die im Ganzen als »Dekolonialisierung« gefasste Exkulpierung von den Kolonialverbrechen des Kaiserreichs ist leicht zu haben, da die heutige Bundesrepublik die Herrschaft über zu Rohstoffkolonien hergerichteten Territorien gar nicht mehr als zweckmäßiges Mittel seiner politökonomischen Interessen betrachtet. Anders als zu Zeiten des Kolonialismus findet der billige Zugriff auf Ressourcen im Rahmen eines kapitalistischen Weltmarkts mit souveränen Staaten statt. Dabei drängt die EU insbesondere Länder in Afrika im Rahmen einer europäischen Rohstoffinitiative und damit verbundenen Freihandelsabkommen seit 2008 wieder vermehrt zu einem Abbau von Ausfuhrbeschränkungen, Ausfuhrsteuern und generell protektionistischen Maßnahmen für die eigene Wirtschaft. Wenn sich nun Deutschland für den Kolonialismus entschuldigt und Verantwortung übernimmt, spricht es sich gleichzeitig von seiner Verantwortung für die prekäre Rolle afrikanischer Länder wie Namibia frei. Deutschland ist nun antiimperialistisch, weil antikolonial. Es erobert geltendem Recht entsprechend, also rechtens, nur noch Märkte, keine Staaten.
Wie Habeck in Bezug auf Hyphen ebenfalls deutlich machte, gilt der »ethische Imperativ« auch als Abgrenzung von der Art der Interessensverfolgung anderer globaler Akteure wie etwa China. Die andere Schlagseite der »Partnerschaft auf Augenhöhe« ist somit die Delegitimation der Konkurrenz der EU in Afrika. Im Rahmen eines neuen »Scramble for Green Hydrogen« in Afrika und speziell Namibia wird das koloniale »Erbe« so zu einer Soft Power und der moderne Imperialismus ausgerechnet mit dem des Vorgängers legitimiert. Die im Konzept »Dekolonialisierung« angelegte Fokussierung auf die Vergangenheit erweist sich als Einfallstor für die Exkulpierung der hegemonialen Gegenwart. So gelingt sogar die Dekolonialisierung des Imperialismus.
Wie vielseitig anwendbar die neue »dekoloniale Moral« ist, zeigt sich, wenn Claudia Roth im Rahmen einer Debatte zur Dekolonialisierung darauf verweist, dass dies erst deutlich machen würde, »wie brutal dieser Krieg gegen die Kultur in der Ukraine ist«. Dagegen wäre mit Bertolt Brecht abschließend einzuwenden: »Die Kultur ist gerettet, wenn die Menschen gerettet sind.«
Anmerkung
1 Stern, 6.12.2022
Philipp Müller forscht zur Rassismus- und Kolonialgeschichte ethnologischer Museen und Kulturimperialismus im allgemeinen.
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