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Aus: Ausgabe vom 24.06.2021, Seite 3 / Schwerpunkt

Hintergrund: 40 Jahre verletzte Menschenrechte

Das sogenannte Transsexuellengesetz (TSG) wurde 1981 eingeführt und seitdem bereits sechsmal für teilweise verfassungswidrig erklärt. Vorgesehen ist das »Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen« noch bis heute nur für Personen, die seit mindestens drei Jahren »unter dem Zwang« stehen, dem »anderen Geschlecht« zugehörig zu leben.

Nichts prägte das TSG mehr als die Sichtweise, dass transgeschlechtliche Personen vereinzelte Kuriositäten mit einer »sexuellen« Störung» seien – so lautete die Klassifikation im ICD-9 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) noch bis 1990. Diese Pathologisierung führte zu einem ebenso fehlgeleiteten Gesetz, welches nie die selbstbestimmte Anerkennung von transgeschlechtlichen Menschen zum Ziel hatte. Statt dessen galt es, die Validität und Unumkehrbarkeit dieser »Störung« mit Hilfe zweier Gutachten zu überprüfen.

Ursprünglich verpflichtete das TSG Antragstellende dazu, sich zuvor genitalverändernden Operationen zu unterziehen. Ob ein operativer Eingriff in dieser Form von der antragstellenden Person selbst gewünscht war, spielte keine Rolle. Um gleichgeschlechtliche Ehen zu vermeiden, galt »Ehelosigkeit« als eine weitere Voraussetzung. So wurden bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2008 zahlreiche Zwangsscheidungen durchgeführt. Selbst wenn eine transgeschlechtliche Person nach einer Namensänderung eine heterosexuelle Ehe eingehen wollte, ging das nicht: Denn laut TSG müsse bei einer Eheschließung »davon ausgegangen werden«, die betroffene Person empfinde sich dann »wieder dem in ihrem Geburtseintrag angegebenen Geschlecht zugehörig«.

Bis 2011 mussten transgeschlechtliche Menschen zudem ihre dauerhafte Unfruchtbarkeit nachweisen. Als Folge wurden in diesem Zeitraum nach einer Schätzung des »Bundesverband Trans*« mehr als 10.000 Menschen zwangssterilisiert. Inzwischen wird die Praxis vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte offiziell als Verstoß gegen Menschenrechte eingestuft. Doch Entschädigungen hat die Bundesregierung nie gezahlt. Zuletzt stellte die Partei Die Linke einen Antrag, um die fremdbestimmten Operationen an transgeschlechtlichen Menschen »aufzuarbeiten, zu entschuldigen und entschädigen«.

Ebenso wie bei allen anderen Anträgen, die am 19. Mai im Parlament diskutiert wurden, um die Situation von LGBTIQ-Personen in Deutschland zu verbessern, stimmte auch hier der Bundestag mehrheitlich dagegen. Statt sich an Ländern wie Schweden ein Beispiel zu nehmen, beschloss der Bundestag damit, dass 40 Jahre Verletzung der Menschenrechte von transgeschlechtlichen Personen keine Entschuldigung wert sind. (mv)

  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (24. Juni 2021 um 11:23 Uhr)
    Endlich ein (auch für einen alten weißen Hetero) nachvollziehbarer Schwerpunkt zu LGBTIQ-Personen! So stelle ich mir Journalismus zum Thema vor.

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