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Leserbrief zum Artikel Deutsche Misere: Mit Blut und Eisen vom 18.01.2021:

Es ging auch anders

Der Beitrag regt an, darüber nachzudenken, dass es beispielsweise in Italien anders verlief. Dort war die bürgerliche Revolution von 1848/49 weiter gegangen, hatte 1861 zum politischen Machtantritt der Bourgeoisie geführt und endete 1870 mit der restlosen Beseitigung der Fremdherrschaft der Habsburger, der Bourbonen und des Papstes und der Herstellung des nationalen Einheitsstaates. So gesehen, errang die bürgerliche Revolution einen Dreiviertelsieg. Nicht erfüllt wurde die wichtigste soziale Aufgabe der Revolution, die Beseitigung des feudalen Grundbesitzes. Während in Deutschland der Einheitsstaat vorwiegend das Werk des Vertreters der Junkerkaste Bismarck war und nach dem Feldzug gegen Frankreich, der als Eroberungskrieg endete, im besetzten Feindesland proklamiert wurde, konstituierte er sich dagegen in Italien im Ergebnis des Kampfes einer nationalen Bewegung lange Zeit revolutionär-demokratischen Charakters und der gegen die Fremdherrschaft geführten Befreiungskriege. Während sich die deutsche Bourgeoisie 1871 der preußischen Hegemonie unterordnete und die politische Macht mit den Junkern teilte, war es in Italien umgekehrt. Die Bourgeoisie des Nordens, vertreten vor allem durch einen starken liberalen Flügel, die sich mit den Latifundistas des Südens arrangierte, indem sie deren Besitz garantierte, war bei der Proklamation des Nationalstaates die politisch führende Kraft. Nicht der Turiner Hof, sondern sie führte den »Kompromiss von oben« herbei. Die Großbourgeoisie handelte jedoch nicht aus eigenem Entschluss, sondern unter dem Druck der kleinbürgerlichen Demokraten, besonders ihres radikalen Flügels, der bis Anfang der 1860er Jahre die Bewegung vor allem durch den Einfluss des Revolutionsgenerals Giuseppe Garibaldi dominierte. Franz Mehring schätzte ein: »Am Ende hat Cavour (Ministerpräsident in Turin) ein einiges Italien geschaffen, als Monarchie zwar nur, aber doch ohne alle Untersatrapen und nur mit dem Verlust von ein paar hunderttausend meist französischer Untertanen seines angestammten Königshauses an Frankreich, während Bismarck einen großen Teil Deutschlands in die preußische Kaserne gesperrt hat, mit Beibehaltung von zwei oder drei Dutzend Mittel- und Kleinstaaten und mit Opferung von acht oder zehn Millionen Deutschen an die slawischen Mehrheitsvölker in Österreich« (Werke, Bd. 7, Berlin/DDR, 1965, S. 228).
Auch das ist zu erwähnen: Garibaldi kämpfte nach Sedan auf der Seite der Französischen Republik, die ihm den Befehl über ein internationales Korps an der Cote d’Or, die Vogesenarmee, übertrug. Auch die Pariser Kommune bot ihm das Kommando über ihre Truppen an. Garibaldi lehnte zwar ab, bekundete aber der Kommune, dem »arbeitenden Volk von Paris, das für die Sache der Gerechtigkeit kämpft«, offen seine tiefe Sympathie. Als er am 2. Juni 1882 starb, bereiteten ihm Parlament, Königshaus und Regierung Italiens dennoch ein großes Staatsbegräbnis mit politischen und militärischen Ehren. Sicher hatte das in der weiteren Entwicklung reaktionäre Züge annehmende Königtum Piemonts, das man gerne das Preußen Italiens nannte, einen geschickten Schachzug getan. Solcherart Realismus war jedoch für die künftig herrschende Klasse Italiens mehrfach charakteristisch. Sowohl die Haltung im Ersten als auch Zweiten Weltkrieg widerspiegelte das, allerdings auf Grundlage unterschiedlicher gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Ehrung Garibaldis aber verdeutlichte noch einmal einen gravierenden Unterschied deutscher und italienischer Haltung zur Geschichte der nationalen Einheitsbewegung. Während Italiens Preußen einem Garibaldi dem zustehenden Respekt bezeugten, hatten die deutschen mit ihren Rebellen schon 1948/49 auf blutige Weise abgerechnet. Erinnerft sei an den preußischen General von der Groeben, der nach der Kapitulation der Festung Rastatt, der letzten Bastion der Badisch-Pfälzischen Revolution, am 23. Juli 1849, den Festungskommandanten Oberst Gustav Tiedemann und 27 seiner Offiziere unverzüglich standrechtlich erschießen ließ. Hunderte starben in den Kasematten der Festung, unzählige wurden heimlich ermordet. Tausende fielen im ganzen Land dem Terror der preußischen Konterrevolution zum Opfer. Zehntausende wurden gerichtlich verfolgt, insgesamt 700.000 Teilnehmer an den Erhebungen von 1848/49 in die Emigration getrieben.
Doris Prato
Veröffentlicht in der jungen Welt am 21.01.2021.
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