Leserbrief zum Artikel Aus Leserbriefen an die Redaktion
vom 17.08.2020:
Zum Leserbrief »Sozialstaat wiederherstellen«
Dabei geht es zunächst nicht einmal um jedes Detail einer Umsetzung oder Finanzierung.
Es scheint zu einem bedeutendem Thema zu werden, weil Kapitalismus als Gesellschaft weder Lösung noch Antwort zur Zukunft der Arbeit und ihrem Träger »Arbeitskraft« hat. Künstlich gesenkte Arbeitslosigkeit verbirgt das wachsende Problem nur bzw. offenbart die Verelendung der arbeitenden Klasse, wie Marx schon beschreibt. Digitalisierung wird zum Schreckenswort, da sie viele Millionen arbeitslos machen werde, Millionen Arbeitsplätze koste und soziale Gefahren bringe.
Geschieht das nicht schon längst? Bedroht Kapitalismus mit seinen Krisen, Kapitalverwertungszwängen und sinkender Tendenz der Profirate nicht selbst und ohne Digitalisierung die Zukunft von Arbeit, Arbeitskraft als Mensch? Was treibt das Kapital anderes an als maximal profitable Verwertung sprich Ausbeutung der Arbeitskraft in dem Umfang, in dem er sie benötigt. Was aber mit dem Teil, der größer wird und nicht gebraucht wird? Das ist zugleich Sorge der Gewerkschaften bis zu Linken, aber auf unterschiedliche Weise.
Es dürfte also erst einmal Antwort erwartet werden, wie sich vorgestellt wird, dass Kapitalismus das Problem mit einem BGE zu lösen vermag, heißt: eine andere Lösung, als es »Hartz« sein sollte und noch ist. Linke und Gewerkschaften sollten die Frage beantworten, wie Kapitalismus beizubehalten ist, Ausbeutung, Verwertung von Arbeitskraft, Profitprinzip und alle Spielregeln der Gesellschaft, und mit einem BGE die sozialen Probleme aus der Welt zu schaffen wären. Womöglich in Partnerschaft und Solidarität, aus freiwilliger Einsicht des Kapitals usw. Das wäre die eine Seite, die kaum gehen wird, ohne dem Kapital die Lohnarbeit als Profitquelle streitig zu machen. Ein »Hartz 2.0« kann sicher auch keine Lösung sein.
Ein weit wichtigerer Punkt ist ein ganz anderer, der selten thematisiert wird.
Zumindest in der Linken sollte es eine Überlegung wert sein zu fragen, was Arbeit für den Menschen an sich ist und bedeutet. Kann es dann auch nur ansatzweise eine Überlegung sein, Menschen von gesellschaftlicher Arbeit auszuschließen, sie in den Verdacht der Faulheit zu bringen, wie es längst mit dem BGE oft genug getan wird?
Mitunter findet man sich geradezu in die Zeit utopischer Sozialisten zurückversetzt. Nur, diese waren noch große Denker und Humanisten, denen wesentliche Kenntnisse des Kapitalismus fehlten.
Wieviel Träumerei ist es dann heute, die Befreiung der Menschen von der Arbeit, Wohlstand und Existenz im Kapitalismus zu verwirklichen?
Kommentar jW:
Auf diesen Brief antwortete Bernhard May:
»Träumerei«: immer gerne. Ekkes Frank glaubt in einem Lied, dass, »wer nur an heute denkt, ein Träumer – und wer von morgen träumt, pragmatisch ist«. Doch wovon wir also träumen: Dieser Satz birgt einmal mehr die geballten Vorurteile gegen das BGE. Dieses will und wird weder von der nackten Existenzgrundlage noch vom Wohlstand »befreien«, sondern im Gegenteil den ganz offensichtlich möglichen Wohlstand so umverteilen, dass alle etwas davon haben – und zwar etwas mehr als die »Existenz«, um nämlich auch Teilhabe zu garantieren. Ob – und warum nicht – dabei eben auch von »Arbeit« befreit werden kann oder muss, ist die Frage. Ich sah noch kein BGE-Konzept, das »Arbeit« (mit Einkommen neben dem BGE oder über dieses hinaus) verboten hätte. Aufgehoben würde nur diese Zwangslage der Abhängigkeit, ja Erpressung, und diese historisch verständliche, aber reichlich veraltete und willkürliche Gleichsetzung von Arbeit und Existenz, welche ganz nebenbei alle Rentnerinnen, Pensionärinnen, Kinder, Jugendlichen, Studierenden und »Arbeits«-Unfähigen übelst diskriminiert (von den Erwerbslosen und der ihnen angeblich zumutbaren »Arbeit« ganz zu schweigen). Roland Winklers »Vorwurf der Faulheit« spricht Bände: Wer erhebt ihn wem gegenüber? Roland Koch (CDU), Franz Müntefering (SPD) oder Apostel Paulus? Und wofür sollten solche unkreativen Kleingeister maßgeblich sein? »Klippschule Sauerland« oder so (Müntefering) reicht wahrlich, um zu verstehen, was der Strauchdieb wollte, als er uns volle zwei Jahre Freizeit stahl (zwischen 65 und 67): nämlich Rentenkürzung heimtückisch von hinten. – Lafargue hingegen, der Marx als dessen Schwiegersohn noch kannte, forderte selbstbewusst das Recht auf Faulheit, das später Georges Moustaki in wunderschön vertontem Französisch besang: »... le droit à la paresse.« Verdanken wir Marx nicht nur den Begriff der Entfremdung (samt dessen auf die »Arbeit« bezogener Veranschaulichung)? Was, bitte, hätte Marx gegen eine Befreiung von entfremdeter Arbeit einwenden sollen?