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Leserbrief zum Artikel Hanauer OB kritisiert fehlende Konsequenzen vom 22.05.2020:

»Corona« verschärft Ungleichheit

Eine Bemerkung vorab: Der Hanauer Oberbürgermeister hat die Großveranstaltung im Stadion zum Ende des Fastenbrechens abgesagt. Die höchste Feier des Islam neben dem Opferfest, insofern eine besondere Anforderung an Verzicht für unsere muslimischen Mitbürger. Dennoch angesichts der letzten Meldungen über Ansteckungen bei größeren Versammlungen wie auch des Falls einer baptistischen Gemeinde in Frankfurt unbedingt notwendig und begründet. Wie überhaupt die Verordnungen der Stadt im Rahmen des pandemischen Ausnahmezustands bisher weitsichtig und vernünftig waren, insofern sie auf eine Eindämmung der Seuche zielten. Dies sage ich im Unterschied zu einzelnen und Gruppen, die selbst auf dem Höhepunkt des »Shutdowns« die Gefahren leugnen oder gar wie »Widerstand 2020« mit Verschwörungsfabulierern und extremen Rechten gemeinsame Sache machen, um angeblich unsere Freiheitsrechte zu retten. »Wir sind alle gleich«, so die richtige Antwort der Stadt auf den rassistischen Anschlag vom 19. Februar in Hanau. Obwohl eher wohl ein Wunschbild, bestenfalls ein Vorsatz. Sind wir dies auch inmitten und in der Folge der Pandemie? Eine rein rhetorische Frage, denn tatsächlich gibt es beträchtliche Unterschiede. Zu fragen wäre: Wer ist der größeren Gefahr ausgesetzt, wer hat am Ende die Rechnung zu bezahlen? Der Nadelgestreifte oder der Blaumann, die Altenpflegerin oder die Manager der börsennotierten Pfegeheimkette? Ungleichheit und ungerechte Verteilung der Lasten nach unten beginnen schon mit Ausschließung der Kommunen von der Teilhabe an dem Rettungspaket der Bundesregierung. Während »notleidende« Großunternehmen wie die Lufthansa (Flotte weitgehend abbaubedürftig als Klimakiller) knapp unter der Sperrminorität liegende neun Milliarden Euro an Zuschüssen, nicht Krediten (!), erhalten, bleiben die Städte und Gemeinden ohne jede Hilfe. Die müssen sich dann die Mittel für Leistungen der Daseinsvorsorge wie Schwimmbäder, Gesundheitsämter, Sozialpässe, Theater etc. künftig über Erhöhung von Abgaben und Steuern von den Bürgern holen. Oder soziale und kulturelle Leistungen kürzen. Also jedenfalls nach unten weitergeben. So verschärft »Corona« die Ungleichheit. Weiter: Jeder dritte Arbeitnehmer ist auf Kurzarbeit, hat also oft existenzbedrohende Abzüge, die Arbeitslosigkeit steigt, Hartz-IV-ler und Personen mit Transferleistungen bleiben ohne jede Zuwendung. Obdachlose ohnehin. Die Schließung von Kitas und Schulen belastet vor allem die Frauen. Wander- und Saisonarbeiter, vor allem aber ausländische Pflegekräfte, man holt sie wieder ins Land, weil man sie dringend braucht, sie wohnen oft in Sammelunterkünften oder so beengt, dass das Virus leichtes Spiel hat, sie beziehen Entgelt weit unter Tarifhöhe. Oft nur Hungerlöhne. Zum Ausgleich für hohes Risiko und verschärfte Armut nun eine gute Nachricht: Es gibt auch Krisengewinner! Zum Beispiel Hedgefonds, die ein paar lumpige Milliarden damit machen, dass sie gegen die Banken auf fallende Aktienkurse setzen. Das nennt sich gesellschaftlich nützliche Arbeit. Oder die Großverdiener in den Manageretagen: Sie bekommen noch Boni und zahlen Dividenden aus, wenn sie das Unternehmen zerlegen oder ganz verscherbeln. Die Bundesrepublik, eine Landschaft, über die eine Krankheit zieht. Menschengemacht, die eine wie die andere. Aber irgendwie sind wir doch alle gleich, oder?
Jörg Sternberg, Hanau
Veröffentlicht in der jungen Welt am 30.05.2020.