Leserbrief zum Artikel Wahn und Gesellschaft: Narziss und Nazis
vom 11.03.2020:
Erst das Fressen, dann die Moral
Vielen Dank für diese aufschlussreichen Ausführungen!
Seit langem bin ich selber sogar gegenüber »echten Linken« oftmals etwas misstrauisch, in dem Sinne, dass ich ihnen nicht zutraue, wirklich etwas zu bewegen. Und zwar immer genau dann, wenn dieses vereinfachte Denkmuster à la »Das Sein bestimmt das Bewusstsein« hervortritt und nichts weiter nachkommt, der Slogan dann auch noch als »Wir machen mal irgendwie was Sozialistisches, und der Rest ergibt sich dann schon irgendwie« interpretiert wird. Den Ausgebeuteten wie in der Vergangenheit die Möglichkeit eines Alternativsystems anzubieten und es sogar gegebenenfalls in der Praxis auch umzusetzen, welches sie zwar nicht mehr ausbeutet und die Grundbedürfnisse erfüllt, aber darüberhinausgehende Bedürfnisse bestenfalls rudimentär und mangelhaft am Rande berücksichtigt, funktioniert doch höchstens in den ersten ein oder zwei Generationen wirklich, wenn überhaupt. Auch ist dieses angesprochene Marxsche Denkmuster doch nur die halbe Wahrheit: In einer »sich selbst verstärkenden Feedbackschleife« bestimmt das Bewusstsein sehr wohl auch das Sein; hier auf einer naturgemäß meist etwas längerfristigen Ebene und selbstverständlich beschränkt durch die tatsächlichen natürlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen, jeweils aktuellen Verhältnisse.
Meine Vermutung ist, dass eine Gesellschaft oder Gemeinschaft, egal in welcher Organisationsform, immer dann mittel- oder auch gegebenenfalls langfristig Bestand hat, wenn eine übergroße Mehrheit der Menschen dauerhaft ein Gefühl von Wachstum in einer bestimmten, genauer zu ermittelnden Mindestgröße hat. (Eventuell muss sich dies allerdings nicht auf ökonomisches Wachstum beschränken.) Wobei wiederum zu großes Wachstum, was man oftmals in kapitalistischen Systemen, zeitlich und regional jeweils beschränkt, sieht, jedoch schädlich ist: Zum einen wird es dann rein mathematisch und durch die Begrenztheit von Ressourcen immer schwerer und sehr bald unmöglich, diese hohe Rate aufrechtzuerhalten. Zum anderen sorgt diese hohe Rate im subjektiven Bedürfnisgefühl der Menschen für eine exponentielle Steigerung nach mehr, also ziemlich analog zu einem auf die jeweilige Droge sich immer weiter und schneller desensibilierenden Junkie. Diese Schädlichkeit wird in kapitalistischen Systemen durch eben genau die immanenten Krisen eingeschränkt: Im Sinne der Junkie-Analogie werden die Menschen in großen Teilen in einer solchen Krise heftig auf »kalten Entzug« gesetzt, was wie in der Realität der Analogie auch, Tod und Siechtum für nicht gerade wenige bedeuten kann. Bestenfalls kurz darauf kann das Wachstum dann erneut starten, jetzt von einem in der Summe erniedrigten Niveau aus. Kapitalistische Krisen sind somit zugleich ein paradoxerweise stabilisierender Faktor wie auch ein wichtiger Grund für die Notwendigkeit der Überwindung dieses (selbstverständlich auch außerhalb der Krise extrem inhumanen) Systems, auch da sie beim heutigen Stand der Technik jeweils immer das Risiko von Megakatastrophen in sich tragen.
Wenn man den Begriff »Macht« nicht auf die gewaltsame Durchsetzung des Willens eines Individuums zu Lasten anderer beschränkt, sondern sehr stark ausweitet und auf die ganz persönliche Macht (und jeweils im Gegenteil auch Ohnmacht) abstellt, was bis hinunter auf die Ebene von Körperfunktionen reicht (die Macht zu atmen, die Macht zu essen etc.), aber natürlich auch auf höhere, kulturelle oder die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und Individualität betreffende Bedürfnisse, könnte man dies alles sogar mit Nietzsche zusammenfassen: »Glück ist, wenn die Macht wächst.«
Vielleicht können wir in dieser Hinsicht tatsächlich viel von den chinesischen Erfahrungen lernen, auch wenn dort sicher noch lange nicht alles optimal läuft.
Zur praktischen Schaffung und Etablierung eines tatsächlich humanen und gerechten Systems schließt sich nach meiner Auffassung jedoch ein Zeitfenster, an dessen Ende die Selbstvernichtung der Menschheit, evtl. sogar des Lebens insgesamt, steht. Außerdem glaube ich kaum, dass die gefestigten, kapitalistisch-faschistischen psychosozialen Strukturen nur durch eine der vielen kapitalistischen Krisen einfach so aufgebrochen werden. Vielleicht kann man diese Krisen, wie im Artikel angesprochen und im Sinne der damaligen nicht erfüllten Hoffnungen der Kommunisten, ein wenig nutzen. Allerdings sicher nur unter der Voraussetzung massiver Vorbereitung: Die Menschen müssen ganz allgemein, d. h. ganz egal welcher Klasse, Schicht oder sonstigen sozialen Gruppe man sie zuordnet, viel besser, d. h. richtig und breiter politisch wie auch psychologisch gebildet werden. Vor allem aber müssen sie ethisch-moralisch gebildet werden, um die bis heute grassierende Minderbemitteltheit in dieser Hinsicht einzudämmen: Weit über 98 Prozent der Leute betätigen sich, obwohl mehrheitlich selber in einer Opferposition von struktureller Gewalt und als Ausgebeutete befindlich, selber als Ausbeuter und Gewalttäter. Sie hoffen bewusst oder wenigstens halb- oder unbewusst und im Endeffekt fast immer vergeblich darauf, dadurch ihre individuelle Position in verschiedenen Bereichen zu verbessern. Solange diese Ausbeutungsmentalität als normal und oftmals sogar wünschenswert angesehen wird, wird rein aus massenpsychologischen Gründen immer eine Minderheit über eine Mehrheit herrschen und diese Macht zu Lasten der Mehrheit missbrauchen, völlig unabhängig von den sonstigen Details oder davon, welchen Namen man dem System aufdrückt.
Wie kann man denn auch erwarten, dass sich einzelne und auch die Massen allgemein oder ganz besonders in der Krise wirklich effektiv für ein wirklich gerechtes statt ein faschistisches oder sonstig inhumanes System einsetzen, solange praktisch so gut wie jeder von ihnen außerhalb der Krise, im Alltag, rund um die Uhr im übertragenen Sinne gemäß der Dreigroschenoper zur Devise »Erst kommt das Fressen, dann die Moral« gröhlt und ganz konkret durch die eigenen alltäglichen und objektiv unnötigen Taten z. B. für solche Zustände mitverantwortlich ist?
Seit langem bin ich selber sogar gegenüber »echten Linken« oftmals etwas misstrauisch, in dem Sinne, dass ich ihnen nicht zutraue, wirklich etwas zu bewegen. Und zwar immer genau dann, wenn dieses vereinfachte Denkmuster à la »Das Sein bestimmt das Bewusstsein« hervortritt und nichts weiter nachkommt, der Slogan dann auch noch als »Wir machen mal irgendwie was Sozialistisches, und der Rest ergibt sich dann schon irgendwie« interpretiert wird. Den Ausgebeuteten wie in der Vergangenheit die Möglichkeit eines Alternativsystems anzubieten und es sogar gegebenenfalls in der Praxis auch umzusetzen, welches sie zwar nicht mehr ausbeutet und die Grundbedürfnisse erfüllt, aber darüberhinausgehende Bedürfnisse bestenfalls rudimentär und mangelhaft am Rande berücksichtigt, funktioniert doch höchstens in den ersten ein oder zwei Generationen wirklich, wenn überhaupt. Auch ist dieses angesprochene Marxsche Denkmuster doch nur die halbe Wahrheit: In einer »sich selbst verstärkenden Feedbackschleife« bestimmt das Bewusstsein sehr wohl auch das Sein; hier auf einer naturgemäß meist etwas längerfristigen Ebene und selbstverständlich beschränkt durch die tatsächlichen natürlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen, jeweils aktuellen Verhältnisse.
Meine Vermutung ist, dass eine Gesellschaft oder Gemeinschaft, egal in welcher Organisationsform, immer dann mittel- oder auch gegebenenfalls langfristig Bestand hat, wenn eine übergroße Mehrheit der Menschen dauerhaft ein Gefühl von Wachstum in einer bestimmten, genauer zu ermittelnden Mindestgröße hat. (Eventuell muss sich dies allerdings nicht auf ökonomisches Wachstum beschränken.) Wobei wiederum zu großes Wachstum, was man oftmals in kapitalistischen Systemen, zeitlich und regional jeweils beschränkt, sieht, jedoch schädlich ist: Zum einen wird es dann rein mathematisch und durch die Begrenztheit von Ressourcen immer schwerer und sehr bald unmöglich, diese hohe Rate aufrechtzuerhalten. Zum anderen sorgt diese hohe Rate im subjektiven Bedürfnisgefühl der Menschen für eine exponentielle Steigerung nach mehr, also ziemlich analog zu einem auf die jeweilige Droge sich immer weiter und schneller desensibilierenden Junkie. Diese Schädlichkeit wird in kapitalistischen Systemen durch eben genau die immanenten Krisen eingeschränkt: Im Sinne der Junkie-Analogie werden die Menschen in großen Teilen in einer solchen Krise heftig auf »kalten Entzug« gesetzt, was wie in der Realität der Analogie auch, Tod und Siechtum für nicht gerade wenige bedeuten kann. Bestenfalls kurz darauf kann das Wachstum dann erneut starten, jetzt von einem in der Summe erniedrigten Niveau aus. Kapitalistische Krisen sind somit zugleich ein paradoxerweise stabilisierender Faktor wie auch ein wichtiger Grund für die Notwendigkeit der Überwindung dieses (selbstverständlich auch außerhalb der Krise extrem inhumanen) Systems, auch da sie beim heutigen Stand der Technik jeweils immer das Risiko von Megakatastrophen in sich tragen.
Wenn man den Begriff »Macht« nicht auf die gewaltsame Durchsetzung des Willens eines Individuums zu Lasten anderer beschränkt, sondern sehr stark ausweitet und auf die ganz persönliche Macht (und jeweils im Gegenteil auch Ohnmacht) abstellt, was bis hinunter auf die Ebene von Körperfunktionen reicht (die Macht zu atmen, die Macht zu essen etc.), aber natürlich auch auf höhere, kulturelle oder die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und Individualität betreffende Bedürfnisse, könnte man dies alles sogar mit Nietzsche zusammenfassen: »Glück ist, wenn die Macht wächst.«
Vielleicht können wir in dieser Hinsicht tatsächlich viel von den chinesischen Erfahrungen lernen, auch wenn dort sicher noch lange nicht alles optimal läuft.
Zur praktischen Schaffung und Etablierung eines tatsächlich humanen und gerechten Systems schließt sich nach meiner Auffassung jedoch ein Zeitfenster, an dessen Ende die Selbstvernichtung der Menschheit, evtl. sogar des Lebens insgesamt, steht. Außerdem glaube ich kaum, dass die gefestigten, kapitalistisch-faschistischen psychosozialen Strukturen nur durch eine der vielen kapitalistischen Krisen einfach so aufgebrochen werden. Vielleicht kann man diese Krisen, wie im Artikel angesprochen und im Sinne der damaligen nicht erfüllten Hoffnungen der Kommunisten, ein wenig nutzen. Allerdings sicher nur unter der Voraussetzung massiver Vorbereitung: Die Menschen müssen ganz allgemein, d. h. ganz egal welcher Klasse, Schicht oder sonstigen sozialen Gruppe man sie zuordnet, viel besser, d. h. richtig und breiter politisch wie auch psychologisch gebildet werden. Vor allem aber müssen sie ethisch-moralisch gebildet werden, um die bis heute grassierende Minderbemitteltheit in dieser Hinsicht einzudämmen: Weit über 98 Prozent der Leute betätigen sich, obwohl mehrheitlich selber in einer Opferposition von struktureller Gewalt und als Ausgebeutete befindlich, selber als Ausbeuter und Gewalttäter. Sie hoffen bewusst oder wenigstens halb- oder unbewusst und im Endeffekt fast immer vergeblich darauf, dadurch ihre individuelle Position in verschiedenen Bereichen zu verbessern. Solange diese Ausbeutungsmentalität als normal und oftmals sogar wünschenswert angesehen wird, wird rein aus massenpsychologischen Gründen immer eine Minderheit über eine Mehrheit herrschen und diese Macht zu Lasten der Mehrheit missbrauchen, völlig unabhängig von den sonstigen Details oder davon, welchen Namen man dem System aufdrückt.
Wie kann man denn auch erwarten, dass sich einzelne und auch die Massen allgemein oder ganz besonders in der Krise wirklich effektiv für ein wirklich gerechtes statt ein faschistisches oder sonstig inhumanes System einsetzen, solange praktisch so gut wie jeder von ihnen außerhalb der Krise, im Alltag, rund um die Uhr im übertragenen Sinne gemäß der Dreigroschenoper zur Devise »Erst kommt das Fressen, dann die Moral« gröhlt und ganz konkret durch die eigenen alltäglichen und objektiv unnötigen Taten z. B. für solche Zustände mitverantwortlich ist?
Veröffentlicht in der jungen Welt am 16.03.2020.