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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Flucht, Migration und Klassenkampf: Gleiche Rechte für alle vom 08.01.2020:

Welche Freiheit?

Als 17jähriger Asylbewerber aus Afghanistan kam ich nach Deutschland – mit großen Hoffnungen. Was ich in meinem Leben bisher schon alles erlebt habe, »geht auf keine Kuhhaut«, wie man, glaube ich, in Deutschland sagt. Da ich Optimist bin, schreibe ich an dieser Stelle mal, ich hatte bisher in Deutschland eher Glück. Ich traf im »Eine-Welt-Verein Vogtland« nette Menschen, erhielt Hilfe, wenn ich sie brauchte, und konnte vor anderthalb Jahren eine Lehre als Landschaftsgärtner beginnen. Während mir die praktische Ausbildung keine Schwierigkeiten bereitet, sieht das mitunter in den theoretischen Ausbildungsfächern nicht ganz so gut aus. Zum Glück fand ich im Verein einen früheren Deutschlehrer, und ich bin sehr froh, dass er mir hilft, die theoretischen Anforderungen zu bewältigen.
Im vergangenen Jahr brauchte ich wieder seine Hilfe. Wir bekamen in der Berufsschule im Deutschunterricht den Film »Der Ballon« gezeigt und sollten unsere Meinung und unsere Gedanken zu diesem Film aufschreiben. Das war für mich nicht ganz einfach, und nun habe ich den mit seiner Hilfe verfassten Beitrag an Ihre Redaktion geschickt.
Öfter nehmen wir die junge Welt zur Hand, um »verstehendes« Lesen zu üben und uns über die Inhalte auszutauschen. Für mich ist das sehr interessant. Ich denke, es ist auch für Ihre Leser interessant, meine Gedanken zum Film »Der Ballon« zu erfahren.
Der Film handelt von einer Flucht in einem Heißluftballon über eine Grenze. Er erinnerte mich an meine eigene Flucht aus Afghanistan nach Europa. Aber er hat bei mir mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Eine Flucht über eine Staatsgrenze ist doch kein Abenteuer! Bei unserer Flucht mussten wir mehrere Staatsgrenzen überqueren, und immer wieder wurden wir gejagt und verfolgt. Wir kannten unser Risiko. Wir mussten aus einem Land fliehen, das zwar unser Heimatland war, aber in dem an jedem Tag unzählige Menschen umgebracht werden, weil sie die Auffassung der Taliban nicht teilen. Sehr viele Menschen wünschen sich Frieden, Freiheit und ein besseres Leben. Nur wenige können in Länder gehen, die ihnen ein sicheres und würdiges Leben bieten. Und die, die gehen könne, möchten durch ihre Arbeit Geld verdienen und ihre alten Eltern oder ihre jüngeren Geschwister unterstützen. Viele zu Hause sind krank, haben nicht genug zu essen und leiden unter dem Krieg. Diese Leiden konnte ich bei den Leuten im Film nicht bemerken. Sie wollten in die Freiheit, riskierten ihr Leben. Ich verstehe in diesem Zusammenhang das Wort Freiheit nicht. Was für eine Freiheit sollte das sein? Konnten die Menschen in der DDR nicht leben? Hatten sie zuwenig zu essen? Hatten sie keine Arbeit? Hatten sie keine medizinische Versorgung, wenn sie krank waren? Durften sie nicht oder nur wenige Jahre in die Schule gehen oder Mädchen überhaupt nicht, wie in vielen afghanischen Provinzen? Ich glaube, die Menschen im Film riskierten ihr Leben für viel weniger. Manchmal nennt man uns Wirtschaftsflüchtlinge – wie soll man die Flüchtlinge in dem Film nennen? Da der Film einen realen Hintergrund hat und die Flucht wahrscheinlich wirklich so stattfand, verstehe ich nicht, wie man ein solches Risiko eingehen und auch das Leben von eigenen Kindern so gefährden kann.
Von einer großen Freiheit in Deutschland haben meine Freunde und ich auch geträumt, aber wenn man, wie im Vogtlandkreis schoin passiert, von der Arbeit abgeholt wird und, ohne dass man etwas verbrochen hat, nach Afghanistan abgeschoben wird, kann ich keine Freiheit erkennen.
Wie gesagt, zu diesem Film habe ich mehr Fragen als Antworten. Der Film war zwar sehr spannend, aber ich hätte eine derartige Flucht nicht riskiert. Meine Flucht war zwar auch kein Zuckerschlecken, ich wurde unterwegs auch geschlagen und mehrere Monate wegen illegalen Grenzübertritts ins Gefängnis gesteckt, aber ich bin um mein Leben geflüchtet, deshalb kann ich den Film nicht richtig einordnen. Das liegt vielleicht auch daran, dass ich aus Afghanistan bin und die deutsche Geschichte nicht genügend kenne.
Als ich den Text abgab, lächelte mich mein Lehrer, nachdem er ihn gelesen hatte, wortlos an. Auch dieses Lächeln konnte ich nicht deuten.
Ich danke an dieser Stelle meinem deutschen Freund, der mir bei der Niederschrift meiner Gedanken geholfen hat.
Mohamad Ali M.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 09.01.2020.