Leserbrief zum Artikel Staatsstreich in Bolivien: Putsch mit Bibel
vom 14.11.2019:
Frühling wird kommen
Die wahren Gründe des Putsches gegen den ersten indigenen Präsidenten Boliviens sind, dass er in seinen 13 Jahren als Regierungschef Boliviens das ehemalige Armenhaus Südamerikas und nach Haiti zweitärmste Land der Amerikas zu bescheidenem Wohlstand geführt hat. Extreme Armut wurde halbiert, die Lebenserwartung stieg von 64 auf 71 Jahre, Mindestlohn stieg von 440 auf 2.060 Bolivianos, Ausgaben für Gesundheit stiegen um 170 Prozent, Analphabetismus wurde reduziert. All das, obwohl die Auslandsschulden auf einem historischen Tiefstand und die nationalen Währungsreserven auf einem historischen Höchststand sind. Bolivien hat mit Morales erstmals in seiner Geschichte das höchste BIP-Wachstum von ganz Lateinamerika zu verzeichnen. Eigentlich alles ganz tolle wirtschaftliche Zahlen und soziale Erfolge, von denen die meisten Länder träumen. Wäre da nicht die kleine, aber immer noch sehr mächtige, meist weiße Oberschicht, auch Kompradorenklasse genannt, die das natürlich nie akzeptieren kann, dass ein Aymara-Indio ihnen etwas von ihren enormen, über die Jahrhunderte geraubten Reichtümern wegnimmt und als Wohltaten an das gemeine Volk verteilt. Die lokale Kompradorenklasse, die Hand in Hand mit transnationalen Konzernen zusammenarbeitet, hat selbstverständlich ganz andere, eigene Interessen, und dazu gehört ganz sicherlich nicht, ihre eigenen Privilegien zu opfern, damit es den Armen besser geht. Jahrhundertelang haben sie Armut bekämpft, indem sie die Armen bekämpften, wieso sollte sich das jetzt auf einmal ändern? Eine weitere Sünde von Evo Morales war gewesen, die Zusammenarbeit mit der amerikanischen Antidrogenbehörde DEA zu beenden und die US-Militärbasen in Bolivien zu schließen. Das mag natürlich Uncle Sam gar nicht, und am wenigsten mag er es in seinem »gottgegebenen« Hinterhof. Und die allergrößte Sünde, die er begangen hat, war, dass er das Wort Sozialismus aussprach und sein Volk zum Sozialismus führen wollte. Das mag die stramm katholische oder radikal evangelikale Oberschicht gar nicht. Sozialismus ist für sie Teufelswerk, und deshalb gehört er auf den Scheiterhaufen. Nicht Texte von Marx, Che, Fidel, Chavez oder sonstigen, vom Teufel besessenen Aufrührern soll das Volk lesen, sondern ihre gute alte Bibel soll als einziges Lesematerial dienen, um die Herde wieder auf den richtigen Weg zu führen. Nicht Pachamama (Mutter Erde) und diesem ganzen heidnischen Humbug soll das Volk huldigen, sondern es soll sich gefälligst unterwerfen in der von ihrem Bibel-Gott gewollten Ordnung, wo es eben Herrscher und Beherrschte gibt. Bolivien steht für 500 Jahre kolonialistischer Unterwerfung, aber auch für 500 Jahre indigenen Widerstand. So sicher wie das Amen in der Kirche werden sich die Unterdrückten wieder organisieren, um dieses Unrecht endlich zu beenden. Wie sagte Pablo Neruda: »Sie können vielleicht alle Blumen abschneiden und zerstören, aber sie werden es niemals verhindern können, dass der nächste Frühling kommt.« Er wird kommen! Venceremos!
Veröffentlicht in der jungen Welt am 15.11.2019.