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Leserbrief zum Artikel Hunderte »Bunte Westen« demonstrieren vom 18.02.2019:

Wir sind viele

Die Sammlungsbewegung »Aufstehen« hat am 16. Februar zur einer bundesweiten Aktion »Bunte Westen« aufgerufen. Mit einer violetten Weste nahm auch ich am Samstag auf dem Anger in Erfurt mit zirka 100 Menschen aus Thüringen teil. »Aufstehen« ist keine Partei, sondern eine Sammlungsbewegung, welche gegen die Politikverdrossenheit kämpft. Viele Bürger*innen sind von der Politik enttäuscht. Trotz aller Sonntagsreden und moralischen Appelle, die meinen, dass wir das beste politische System, »die Demokratie«, haben und das beste wirtschaftliche System, »die soziale Marktwirtschaft«, geht die Schere zwischen Arm und Reich von Jahr zu Jahr immer weiter auseinander. Der Lebensstandart bei vielen Bürger*innen sinkt ständig, und seit 1972 starben mehr Menschen, als Kinder geboren wurden, denn Kinder sind ein Armutsrisiko.
Aber Vizekanzler und Finanzminister Scholz (SPD) sagte: »Die fetten Jahre in Deutschland sind vorbei.« Fragt sich nur: für wen? 1991 erreichten wir ein Bruttosozialprodukt (BSP), das sind alle Dienstleistungen und produzierten Güter in einem Jahr, von 1.579,8 Milliarden Euro, aber 2017 erreichten wir eine Verdoppelung dessen, nur was ist bei den Geringverdienern angekommen?
Die Redner auf dem Erfurter Anger riefen den Bürgern*innen zu: »Unsere Wut wächst! Wir müssen alle aufstehen gegen solche Missstände in Deutschland.« Aber das ist leichter gesagt als getan.
Nur 17 Prozent der Beschäftigten sind in einer Gewerkschaft organisiert. Wenn man fragt, warum bis du nicht in der Gewerkschaft, kommen solche Ausflüchte wie: »Ich bekomme Ärger, wenn ich mich engagiere.« Aber die Gewerkschaft und ihre Funktionäre können nicht helfen, wenn die Beschäftigten nicht bereit sind , selbst für ihre Rechte zu kämpfen.
Einfacher ist es, nach unten zu treten! Dazu ein Erlebnis: Am Rande der Veranstaltung kam ich ins Gespräch mit einem älteren Ehepaar, und ihre Meinung ist sehr verbreitet: Die Harzer liegen nur faul auf der Couch und kassieren dafür noch Geld. Die Flüchtlinge sind zu uns gekommen, und ohne etwas zu tun, leben sie bei uns in Saus und Braus. Ich fragte nach, ob sie sich einmal mit Betroffenen unterhalten haben, um selbst festzustellen, was stimmt und was nicht. Die Antwort:: »Warum sollen wir das tun? Wir mussten früher hart arbeiten, und uns hat niemand etwas um sonst gegeben.«
Darauf passt ein treffendes Zitat von Aristoteles ein (altgriechischer Philosoph): »Jeder kann wütend werden, das ist einfach. Aber wütend auf den Richtigen zu sein, im richtigen Maß, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck und auf die richtige Art, das ist schwer.«
Deshalb dürfen die Akteure von »Aufstehen« nicht nachlassen, denn steter Tropfen höhlt den Stein. Und gebetsmühlenartig müssen wir immer wiederholen: Die soziale Lage von vielen wird nicht besser, wenn sie nicht zur Wahl gehen, mit Wahlverweigerung werden die bürgerliche Parteien gestärkt. Auch die AfD aus Protest zu wählen hilft nicht weiter. Denn die AfD hetzt gegen Migranten oder »Hartzer« und will das heutige politische System erhalten, wo die Gewinne die »Reichen und Schönen« bekommen und die Verluste die Steuerzahler mit der Senkung ihres Lebensstandards bezahlen.
Deshalb müssen die Bürger*innen aufstehen, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, und wir müssen mehr werden, um spürbaren Druck auf die Politik ausüben zu können. Denn es geht auch anders, wie die Bewegungen um Bernie Sanders (USA), Jeremy Corbyn (Großbritannien) oder die »Gelben Westen« in Frankreich zeigen.
Stanislav Sedlacik, Weimar
Veröffentlicht in der jungen Welt am 19.02.2019.
Weitere Leserbriefe zu diesem Artikel:
  • Soll »Aufstehen« diskreditiert werden?

    Der Verweis auf die drei Teilnehmer in Mainz und das Verschweigen von z. B. 200 Demonstranten in Schwerin passt meiner Meinung nach in Bild. Oder will die junge Welt sich nicht festlegen, ob »Aufstehe...
    Gisela Pekrul