Leserbrief zum Artikel Marxismus: Widerspruch und Dialektik
vom 11.12.2018:
Vor- oder Endgeschichte
Großen Dank für die Veröffentlichung und für die Brillanz an den Autor Wolfgang Fritz Haug. Allerdings sitzt sein Brillant noch locker in der historischen Fassung, solange auf den zwei jW-Seiten von der Produktivkraftentwicklung keinerlei konkretisierende Rede ist. Denn auch das Verhältnis des empirischen (tradeunistischen) zum entfalteten (»revolutionären«) Klassenbewusstsein unterliegt der Materialität von Geschichte. Das eine mehrt und nährt sich aus dem anderen, und das andere drängt das eine zu inneren Widersprüchen – und damit zu neuen theoretischen Qualitäten. Werktätiges Alltagsbewusstsein basiert zunächst organisch – außer auf religiösen, nationalen, politisch-organisierenden und anderen Einflüssen – auf industrieller Technikentwicklung. Und auf nationalen Erfolgen und Rückschlägen im Lohnkampf.
Hingegen legt die Lektüre z. B. nahe, die »Revolution von 1917 potenzierte … den Marxschen Annahmen diametral (?) entgegengesetzt … Distanz«: aber als reine Disputation zwischen Ideen von Lenin, Gramsci, Kun, Stalin und Lukács. Jedoch bestand das materiell Besondere an »den Bedingungen … im Widerspruch zur Marxschen Theorie«: a) in der kleinen Menge = ein paar Hunderttausend Proletarier(innen) von über 125 Millionen in Russland bei 86 Prozent Landbevölkerung; b) der kleinbäuerlich folkloristischen Prägung, die die meisten Jungarbeiter in die kriegstechnisch frischgebauten Industriezentren um Petrograd und Moskow mitgebracht hatten; c) im fürchterlich depressiven Jahrzehnt nach der nachhaltigen Niederschmetterung der politischen Streiks von 1905. Unter diesen Bedingungen mussten die Bolschewiki, um das Kriegsgemetzel zu beenden, eine »Revolution gegen das Kapital« (Gramsci) machen.
Haug sieht uns heute noch in der »Vorgeschichte des Marxismus«. Wenden wir uns aber nicht bald mit Marx und Engels sowie Leninscher Eigenwilligkeit dem empirischen Alltagsbewusstsein in der Arbeitskraftverkäufer(innen)-Klasse und im Kleinbürgertum zu (unter Bedingungen von »Industrie 4.0«), kann es gleichzeitig die Endgeschichte des Marxismus werden!
Hingegen legt die Lektüre z. B. nahe, die »Revolution von 1917 potenzierte … den Marxschen Annahmen diametral (?) entgegengesetzt … Distanz«: aber als reine Disputation zwischen Ideen von Lenin, Gramsci, Kun, Stalin und Lukács. Jedoch bestand das materiell Besondere an »den Bedingungen … im Widerspruch zur Marxschen Theorie«: a) in der kleinen Menge = ein paar Hunderttausend Proletarier(innen) von über 125 Millionen in Russland bei 86 Prozent Landbevölkerung; b) der kleinbäuerlich folkloristischen Prägung, die die meisten Jungarbeiter in die kriegstechnisch frischgebauten Industriezentren um Petrograd und Moskow mitgebracht hatten; c) im fürchterlich depressiven Jahrzehnt nach der nachhaltigen Niederschmetterung der politischen Streiks von 1905. Unter diesen Bedingungen mussten die Bolschewiki, um das Kriegsgemetzel zu beenden, eine »Revolution gegen das Kapital« (Gramsci) machen.
Haug sieht uns heute noch in der »Vorgeschichte des Marxismus«. Wenden wir uns aber nicht bald mit Marx und Engels sowie Leninscher Eigenwilligkeit dem empirischen Alltagsbewusstsein in der Arbeitskraftverkäufer(innen)-Klasse und im Kleinbürgertum zu (unter Bedingungen von »Industrie 4.0«), kann es gleichzeitig die Endgeschichte des Marxismus werden!
Veröffentlicht in der jungen Welt am 28.12.2018.