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Leserbrief zum Artikel Aufarbeitung des »Radikalenerlasses« vom 20.07.2018:

Alles in Ordnung?

Sicherlich nicht aus heiterem Himmel ist der Wunsch in Hamburg entstanden, sich der Berufsverbotsbetroffenen anzunehmen und den sogenannten Radikalenerlass aufzuarbeiten, der sich wie ein Schönheitsmakel für ein »geeintes« Europa unter der Führung Deutschlands als Stachel in das ach so demokratische Fleisch „unserer“ Wertegemeinschaft eingebohrt hat. Hamburg hat besondere Hausaufgaben zu erledigen, hat Hamburg doch schon 1971 mit einem Senatsbeschluss quasi die Berufsverbote erfunden, nach dem Hamburger Vorbild entstand 1972 der sogenannte Ministerpräsidentenbeschluss zum Radikalenerlass. Die erste, an der 1971 (!) ein Berufsverbot exekutiert wurde, war die Hamburger Lehrerin Heike Gohl, Tochter des Widerstandskämpfers gegen den Hitler-Faschismus und ehemaligen KPD-Bürgerschaftsabgeordneten Walter Möller. Hamburg müsste sich also jetzt der Aufgabe stellen, den Hintergrund dieses ersten Berufsverbots, nämlich KPD-Verbot, Antikommunismus, Diffamierung und Verfolgung von Antifaschisten aufzuarbeiten. Damals hat sich Helmut Schmidt als Bürgermeister von Hamburg profiliert und konnte dann später in die Bundeskanzler-Fußstapfen von Willi Brandt, der der Ministerpräsidentenkonferenz vorsaß, treten. Für eine solide Aufarbeitung der Berufsverbotepraxis müsste sich Hamburg also auch dieser beiden heute sehr hoch gehaltenen Persönlichkeiten, für die westdeutsche Geschichte so prägende Politiker, zuwenden – doch Vorsicht: Ist das überhaupt erlaubt heute, diese berühmten, das demokratische Deutschland symbolisierenden Figuren anzukratzen? Wieweit wird heute zugelassen, sich mit der deutschen Geschichte kritisch auseinanderzusetzen, die Berufsverbotepraxis im Zusammenhang der politisch-sozialen Situation gestern und heute zu bewerten? Heute herrscht die Schmalspurschnellösung: alle Konflikte in Richtung Totalitarismus und Russophobie schieben, den Rest mit Stillschweigen beburgfrieden. (...)
Haben wir eigentlich mal darüber nachgedacht, dass es der Strategie der neuen Bundesrepublik mit ihren imperialistischen Ambitionen als Führerin einer westlichen Wertegemeinschaft und eines »geeinten« Europa in ihr Propagandaimage passt, wenn der Makel der Berufsverbote nicht mehr ihr Selbstbild beschmutzt? Dafür gilt es, aufkommenden Unmut wegen der Altlast Berufsverbote in ungefährliche Gewässer zu kanalisieren, d. h. in antikommunistisches, mit Totalitarismus begründetes Fahrwasser abzudrängen, ohne dass Gesinnungsschnüffelei eingestellt worden ist. Wollen wir uns wirklich für ein Schweigegeld einkaufen lassen, nur damit der Exportmeister Deutschland vor der Welt sauber dasteht? Wie kann man sich die Aufarbeitung der Berufsverbote auf einem Parkett vorstellen, das u. a. geprägt ist von einem geltenden KPD-Verbot, geltenden Notstandsgesetzen, neuen Polizeigesetzen, geheimen Verfassungsschutz»erkenntnissen«, die nicht gegen rechts angewendet werden, und einer nicht erfolgten Wiedervereinigung Deutschlands mit Friedensvertrag – statt dessen »Anschluss« der neuen Bundesländer – mit allen juristischen Konsequenzen? Wie kann man sich die Aufarbeitung der Berufsverbote vorstellen, wenn nicht auch der riesigen Welle der Berufsverbote, die ehemalige Bürger der DDR im Großdeutschland der 90er Jahre getroffen hat, gedacht wird? Eine Rehabilitation der Berufsverbotsbetroffenen kann nur in einer politischen Atmosphäre des Widerstands erfolgreich sein, die zu grundlegenden Veränderungen in Richtung Demokratie geführt hat. Heute gilt mehr denn je, für Abrüstung, gegen die Miitarisierung der Gesellschaft, gegen die Feindbildproduktion – seit eh und je gegen Russland –, gegen die Atomwaffen auf dem Boden Deutschland usw. einzutreten. Wenn wir jetzt schweigen, sind wir erfolgreich mundtot gemacht, haben uns zu einem Burgfrieden vereinbart: War das nicht der Zweck der Berufsverbote? Sollen etwa jetzt die Berufsverbote gegen sich selber wirken als antikommunistisches Mittel zur »Befriedung« jeglicher Opposition nach dem Motto: Das Angst verbreitende Damoklesschwert Berufsverbot ist besänftigt, nun gibt es keinen Grund mehr, aufzubegehren gegen Unrecht, Militarismus, Kriegsgefahr, denn bei »uns« ist ja jetzt alles in Ordnung?
Beate Brockmann, Praelo
Veröffentlicht in der jungen Welt am 01.08.2018.
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