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Leserbrief zum Artikel Magazin für Gegenkultur: Noch 281 Abos fehlen vom 02.06.2018:

Plädoyer für die M&R

Ich bin Johanna aus dem SDS der HAW, der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg. Ich melde mich aus aktuellem Anlass zu Wort, um für die Wiederaufnahme der Melodie & Rhythmus zu sprechen.
Ich habe diese Zeitung leider erst sehr spät kennengelernt und war sofort begeistert. Sie ist ein unersetzbares Zusammenspiel aus historischer Kunst und Kultur, wie sie die Zeiten geprägt hat und von ihnen geprägt wurde, politischer Einschätzung der aktuellen Lage und der widerständigen Arbeit von Kulturschaffenden, und sie verweist in ihren hoffnungsgebenden Artikeln auf ein besseres Morgen. Gerade in der heutigen Zeit, wo wir mit Mainstreammusik, affirmativen Theaterstücken und fatalistischen, hysterischen Soaps gelähmt werden sollen, schafft die Melodie & Rhythmus ein Gegengewicht. Sie schafft Kampfesmut, indem sie über vieles gebündelt berichtet, was sonst eher untergehen würde. Dabei fehlt es ihr auch nicht an Humor.
Ich möchte ein paar Beispiele nennen:
– Sehr begeistert hat mich das Heft zu Kuba, da ein Genosse von mir vor kurzen für eine OP selbst dort war und wir uns in der Gruppe aufgrunddessen etwas ausführlicher mit dem kleinen Land auseinandergesetzt haben. Als er zurückkam, schwärmte er von dem Bildungs- und Gesundheitswesen dort, aber auch von der menschlichen Kultur. Vieles davon habe ich in eurem Heft wiedergefunden und kann mir aufgrund der Bilder und Berichte nun noch ein besseres Bild machen – und gegen die Blockade, zu der auch das Verschweigen der revolutionären Kultur Kubas und der realen Situation vor Ort gehört – mit euren Artikeln angehen, indem ich die Zeitschrift vielfach weitergegeben habe.
– Hilfreich war außerdem die Reportage über das widerständige Theater in der Sowjetunion, aber auch bei uns im Land. Wir bauen aktuell an der HAW eine Theatergruppe auf, die an das Brechtsche Theater anknüpfen will und mit Augusto Boals Theater der Unterdrückten arbeitet. Zu lesen, wie es bereits einmal realisiert war, welche Erfahrungen und Absichten damit verbunden waren, hat uns in dieser Arbeit nochmal bestärkt und in gemeinsamer Diskussion die Form des Theaters nähergebracht bzw. das niveaulose und vielfach praktizierte banale Schauspiel ablehnen gelernt.
– Zuletzt möchte ich mich bedanken bei der Redaktion über den Bericht und die Fotoreportage »Activestills: Photography as Protest in Palestine/Israel«. Ich habe mir aufgrund dessen sofort das Buch gekauft und verweise bei jeder Gelegenheit auf diesen mutigen Widerstand. Gerade im aufgeladenen Israel-Palästina-Konflikt tut es gut zu sehen, dass sich Kulturschaffende nicht unterkriegen lassen und gemeinsam für die Befreiung der Menschen kämpfen und aufklären.
Ich könnte noch mehr Beispiele nennen, aber vielleicht machen es die drei gut deutlich. Die M&R ist internationalistisch, antifaschistisch, friedensbewegt, historisch bewusst und steht auf der richtigen Seite. In ihr gibt es Reportagen zu Musik, Theater, Film, Literatur, Photographie, Jugendbewegungen, Veranstaltungen, auch Kontroverses. Das brauchen wir in der heutigen Zeit – Mut machen mit Kämpfen und Kämpferinnen und Kämpfern und die Möglichkeit geben, sich ihnen anzuschließen. Gerade Kunst und Kultur können unser Bewusstsein, welches vielfach geprägt ist von neoliberaler Eigenverantwortung, befreien. Musik und Kultur sind eine Sprache, die über Grenzen hinweg verstehbar ist, sie fördern Solidarität und Völkerfreundschaft.
Dafür soll Kunst und Kultur eine brotlose Arbeit sein. Nach neoliberalem Leistungsmaßstäben sind Künstler sowieso Versager, wenn sie sich nicht dem Marketing hergeben und sich meistbietend verkaufen. Wenn sie zum Nachdenken anregen wollen. Diese Haltung zu Ästhetik und Schönheit dürfen wir nicht übernehmen und fragen, wo die Künstlerinnen und Künstler denn etwas leisten würden. (Was ab und zu in der Argumentation gegen die M&R auftaucht.)
»Das Tier formiert nur nach dem Maß und dem Bedürfnis der Species, der es angehört, während der Mensch nach dem Maß jeder Species zu produzieren weiß und überall das inhärente Maß dem Gegenstand anzulegen weiß; der Mensch formiert daher auch nach den Gesetzen der Schönheit.« (Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 1844) Es ist also eine zutiefst menschliche und Menschlichkeit hervorbringende Tätigkeit – wider die Entfremdung!
Die Erhaltung der M&R soll nicht die junge Welt herabsetzen. Es sind dies zwei Publikationen, die sich der Aufklärung, der Wahrheitsvermittlung, der Hoffnungsgebung, der Stärkung des Kampfeswillens und der Arbeit für die Überwindung der Ausbeutung verschrieben haben. Sie konkurrieren nicht miteinander, sondern sie ergänzen sich. Die junge Welt braucht die M&R, und die M&R braucht die junge Welt. Die Menschen brauchen realen Journalismus, eine internationale Gegendarstellung über die Berichterstattung aus anderen Ländern und zu allen handfesten Themen: Soziales, Gesundheit, Ökonomie, Bildung, Ökologie usw. Aber um die Welt und ihre Lage darin erkennen zu können, brauchen sie, brauchen wir ebenfalls die Kultur und die Hoffnung. Gerade gegen die Rechte hilft einfaches Wissen nicht, wir haben einen Kulturkampf zu führen!
In diesem Sinne plädiere ich dafür, nicht die junge Welt gegen die M&R auszuspielen, sondern zu überlegen, wie beide Zeitungen gestärkt werden können.
Im SDS HAW haben wir drei Abos der M&R, und wir haben alle Ausgaben, die es im Onlineshop zu erwerben gibt, bestellt, um sie einem unserer Seminare »Kultur, Ästhetik, Medien« zur Verfügung zu stellen.
Angelehnt an diese Idee schlage ich vor, falls noch nicht Praxis, z. B. mit der M&R in die Hochschulen zu gehen. Musikhochschulen, Musikstudiengänge, Schauspielschulen, Kunsthochschulen, Theaterstudiengänge, Journalismus usw. – da fällt einem sicherlich noch eine ganze Reihe ein! Und zusätzlich zur guten Verbreitung der M&R sind auch die kritischen Gedanken an den Hochschulen bitter nötig. Es wird kein Selbstgänger, aber die Idee finde ich sehr lohnenswert. Das Verteilen der jungen Welt schließen diese Standorte nicht aus. So könnten mit konzentrierten Aktionen auch jenseits des 1. Mai die beiden Veröffentlichungen vielleicht in Gebieten verteilt werden, in denen sie noch nicht bekannt sind.
Die Idee mit den Unis stammt aus der Feder einer Studentin, wenn alle Junge-Welt-Freunde sich überlegen, ob ihnen in ihrem Bereich, in den Gewerkschaften, der Friedensbewegung oder bei der Arbeit oder im Freudenskreis solche Ideen einfallen und sie sich zu einer oder zwei Aktionen verabreden, dann bin ich mir sicher, dass beide Zeitungen gerettet werden können! Packen wir es alle zusammen an!
»Wir müssen es uns abgewöhnen und damit aufhören, Kultur als enzyklopädisches Wissen aufzufassen, wobei der Mensch nur als ein Gefäß betrachtet wird, das gefüllt und befrachtet werden muss mit empirischen Daten, rohen und zusammenhanglosen Fakten, die er in seinem Hirn wie in den Spalten eines Nachschlagewerkes in eine Ordnung zu bringen habe, um dann bei jeder Gelegenheit auf die von der Außenwelt kommenden Reize antworten zu können. (…)
Kultur ist etwas ganz anderes. Sie ist Organisation, Disziplin des eigenen inneren Ich, sie ist Besitzergreifen von der eigenen Persönlichkeit, sie ist Gewinnen eines höheren Bewusstseins, durch das man den eigenen historischen Wert, die eigene Funktion im Leben, die eigenen Rechte und Pflichten zu begreifen vermag.« (Antonio Gramsci, Gedanken zur Kultur)
Johanna Zimmermann
Veröffentlicht in der jungen Welt am 14.06.2018.