Leserbrief zum Artikel »Gestörte Einzeltäter«?
vom 11.08.2016:
Tour de Trance
Weltschmerz und Liebeskummer mit tödlichem Ausgang kannte schon die Goethe-Zeit (»Die Leiden des jungen Werther«). (...) Die Not der Pubertierenden, ihre Gefühlsschwankungen, dürften durch alle Zeiten gleich geblieben sein. Nicht jedoch ihr Zugang zu (Schuss-)Waffen und vor allem zu Psychopharmaka. Letztere scheinen die meisten Amoktäter ge- bzw. missbraucht zu haben. Im Gegensatz etwa zu jungen Erwachsenen wie Studenten, die Ritalin schlucken, um ihre Leistung zu steigern, wobei sich durch die Nebenwirkungen die Persönlichkeit verändert, sind bei Schulkindern die überforderten Eltern oder Lehrer die Missbraucher. Keine dem Sport vergleichbaren Dopingvorschriften bremsen sie, denn sie wollen ja nur einem kranken Kind helfen – mit dem Allgemeinwissen im Hinterkopf, dass ein »Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom« eben behandelt werden muss. Wer nicht die volle Leistung bringt, abgelenkt ist, statt mit der Herde zu trotten, der gilt in unserer Zeit eben als krank. Dass viel eher Vollgas und Höchstleistung im Dauerbetrieb krank sind bzw. krank machen, weiß man zwar irgendwie auch, will es aber nicht wahrhaben. Bei der Tour de Trance gibt es nur erste Sieger, so wie es bei der Tour de France nur ein einziges gelbes Trikot gibt. Ab Platz zwei tummeln sich bereits die Verlierer – traurige Signatur des neoliberalen Zeitalters. Aber noch lange kein Grund, erst auf eine ökonomische Weltrevolution zu warten. Leistungsikonen wie Jan Ullrich und Lance Armstrong wurden als Dopingsünder erkannt und zur Strecke gebracht, obwohl sie freudig ihre Gesundheit opferten und obwohl Neoliberalismus und Kommerzsport andauern. Erst recht sollte einer Gesellschaft (auch einer neoliberalen) an der Gesundheit ihrer Kinder liegen – nicht erst bei Amok in Verzug.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 18.08.2016.