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03.07.2010, 11:32:40 / jW-Ostsee-Tour 2010

Kurzer Report vom "Landkommando"

Von Peter Wolter
Bei der Arbeit im Gewerkschaftsheim

Die »Albin Köbis« ist heute früh aus dem Yachthafen Kühlungsborn ausgelaufen, Ziel Warnemünde. Auf direktem Wege wird sie es nicht schaffen – jedenfalls nicht unter Segeln: Das Schiff kann bestenfalls 60 Grad am Wind steuern – der aber weht aus Südost, Stärke 3 – 4.

Die Ketsch muß also unter Segeln erst einen langen Schlag auf See hinaus machen, um dann zu wenden und am Nachmittag Warnemünde ansteuen zu können, wo wir dann als Empfangskomitee auf der Pier stehen. Das letzte Stück wird ohnehin nur unter Maschine gefahren werden können. (Wen es interessiert: Das ist ein Cummins-Diesel mit sechs Zylindern und 160 PS.) Aber immerhin: Der Samstag verspricht für die Genossinnen und Genossen an Bord ein traumhafter Segeltag zu werden.

An Land sind es gegen 10.00 Uhr schon gefühlte 35 Grad, das T-Shirt ist schweißnaß, wir wären jetzt auch gerne auf See ... Stattdessen sitzen wir in Rostock Lütten-Klein in einem ehemaligen Gewerkschaftsheim, das auch 20 Jahre danach noch unverfälschten DDR-Charme ausstrahlt, in unserem Zimmer im 10. Stock und schwitzen.

 Tja, vor 20 Jahren ... Damals war ich der für Gesamt-Norddeutschland zuständige Korrespondent der Nachrichtenagentur Reuters, das Büro war in Hamburg.

Aus unserer Bonner Zentrale bekam ich den Auftrag, den Wahlkampfauftritt von Kanzler Helmut Kohl in Rostock abzudecken – es war sein zweiter oder dritter Auftritt in der Noch-DDR. Mein Dienstwagen war in der Werkstatt, also mußte ein Leihwagen her, ein dicker Mercedes, Reuters war nicht kleinlich. Vor meinem Hotel – das beste Haus am Platze – sprach mich ein DDR-Bürger an, ob ich ihm nicht Westgeld eintauschen könne. Ich sagte ihm, er solle zum Teufel gehen. Schon Stunden vor Kohls Kundgebung, die in der Nähe des Ostseehotels am Hafen stattfinden sollte, sondierte ich das Terrain.

Die Volkspolizei hatte auf Weisung aus Berlin alle Zugangsstraßen abgesperrt, so daß Kohls Konvoi ungehinderte Durchfahrt hatte. Ich blickte in die Gesichter der Genossen: Ich war erschreckt, selten hatte ich so bittere Mienen gesehen. Das für Kohl vorbereitete Podium war mit Gittern im Umkreis von etwa 40 Metern abgesperrt – Eierwurfweite. Vorsichtshalber hatte die CDU mehrere Busladungen eigener Ordner mitgebracht. Einige von ihnen sahen mir verdächtig nach Bundesgrenzschutz aus ... Aus niedersächsischen Altersheimen hatte die CDU einige Dutzend Rollstuhlfahrer herangekarrt, die schon Stunden vor der Kundgebung die ersten Reihen vor der Absperrung besetzt hielten. Dann kamen mehrere Busse mit Aktivisten der Jungen Union, die die nächsten Reihen besetzten. Sie führten Deutschlandfahnen mit sich, bettlakengroß. Um den Kundgebungsplatz herum waren Lautsprecherbatterien aufgestellt, über die schon Stunden vor Beginn unablässig die Marseillaise gespielt wurde, die Hymne der französischen Revolution. Ich hätte kotzen können.

Dann begann die Kundgebung. Die FDJ hatte wohl gemeint, es reiche aus, eine halbe Stunde vor Beginn anwesend zu sein – Pustekuchen: Den Genossinnen und Genossen blieb nur noch ein Platz an der Peripherie. Ich zählte durch: Es waren fast doppelt so viele DDR- wie BRD-Fahnen zu sehen. Für die Fernsehzuschauer ergab sich ein ganz anderes Bild: Die Kameras, leider auch die des DDR-Fernsehen, standen neben Kohls Podium innerhalb der Absperrung. Das, was sie in ost- wie westdeutsche Wohnstuben sendeten, sah so aus: Ein ebenso euphorischer wie rhetorisch geschickter Kohl; in der ersten Reihe alte Leute im Rollstuhl und mit Tränen in den Augen; dahinter junge Männer und Frauen, die begeistert bettlakengroße BRD-Fahnen schwenkten und "Deutschland, Deutschland" skandierten. Die viel zahlreicheren DDR-Fahnen waren kaum sehen. Durch geschickte Manipulation wurden nicht nur die ost- sondern auch die westdeutschen Zuschauer buchstäblich über den Tisch gezogen. Soviel zum Thema Pressefreiheit.

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