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Aus: Behindertenpolitik, Beilage der jW vom 16.12.2015

Blackbox Inklusion

Internationale Solidarität sieht die Politik der Bundesregierung nicht vor, wie eine parlamentarische Anfrage der Linkspartei zeigt
Von Michael Zander
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Widerstand gegen die Austeritätspolitik: Protest in Athen (3.12.2015)

Nichts Genaues weiß man nicht – aber sonst ist alles gut. Auf diese Formel könnte man die meisten Antworten bringen, die die Bundesregierung auf eine große Anfrage der Linksfraktion zum Thema Inklusion gegeben hat. Dabei umfasst das seit November vorliegende Dokument 241 Einzelfragen und ist fast 400 Seiten stark. Immer wieder beruft sich die Koalition entweder auf die bestehende Gesetzeslage oder auf fehlende Kenntnisse. Unter »Inklusion« wird gemeinhin eine Umgestaltung von Schulen verstanden, die einen gemeinsamen Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung ermöglicht. Auf die Frage, warum dieser Prozess nur wenig Fortschritte macht, antwortet die Regierung lapidar, das Recht auf Schulbesuch beziehe sich auch auf Förderschulen, im übrigen sei Bildungspolitik Ländersache. Einen Zusammenhang von Behinderung und Armut vermag die Koalition nicht zu erkennen. Komplizierter gesagt: »Angesichts der Vielfalt möglicher Wechselwirkungen zwischen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und hemmenden wie behindernden Kontextfaktoren ist davon auszugehen, dass es sich bei dem (…) Zusammenhang zwischen Behinderung und niedrigem Einkommen bzw. geringen Ersparnissen um eine Scheinkorrelation handelt.« Die behindertenpolitische Sprecherin der Partei Die Linke, Katrin Werner, unter deren Federführung die parlamentarische Anfrage in die Wege geleitet wurde, hält dagegen: »Die Zahl der arbeitslosen Menschen mit einer Schwerbehinderung ist mit 187.000 im Januar 2015 sehr hoch und seit Jahren stabil. Immer mehr Menschen sind in einer Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt, und immer weniger schaffen den Weg von dort auf den ersten Arbeitsmarkt. In einer Werkstatt erhalten sie ein Entgelt, das nicht zum Leben reicht.«

Während die BRD aufgrund der Kriege im Nahen Osten und in Afrika derzeit eine Welle der Immigration erlebt, zieht sich die Regierung auf die Aussage zurück, ihr lägen keine Daten dazu vor, »wie hoch der Anteil der Menschen mit Behinderung unter den Asylbewerbern ist«. Aber sie ist sich sicher, dass die Gesundheitsleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz »ausreichend« sind, allerdings würden derzeit Verbesserungen »geprüft«. Tatsache ist allerdings, dass das Gesetz für Asylbewerber nur eine Notfallversorgung vorsieht und dass die Regierung die Umsetzung einer EU-Richtlinie zugunsten »besonders schutzbedürftiger« Flüchtlinge verschleppt. Im Zusammenhang mit internationalen Verpflichtungen, die die BRD bei der Umsetzung von Behindertenrechten eingegangen ist, konzentrieren sich die gegebenen Antworten auf Projekte der »Entwicklungszusammenarbeit« mit einzelnen Ländern des globalen Südens. Kein Wort dagegen findet sich über die europäische Finanzkrise und über die auf Betreiben Deutschlands durchgesetzte Austeritätspolitik, die in Südeuropa Tausende von behinderten und chronisch kranken Menschen in Armut gestürzt hat.

Mit deutscher Behindertenpolitik und Fragen internationaler Solidarität beschäftigt sich diese Beilage. Tanja Steinitz erläutert, wie das im Koalitionsvertrag in Aussicht gestellte »Teilhabegesetz« zur Reform der Eingliederungshilfe verwässert und unter Kostenvorbehalt gestellt wird. In Spanien sorgen prekäre Verhältnisse für pflege- und assistenzbedürftige Menschen für Empörung, wie Anna Bock berichtet. Die Politik der griechischen Regierung gegenüber der »Troika« führt zu Meinungsverschiedenheiten in der dortigen Behindertenbewegung. Heike Schrader hat in Athen Aktivisten befragt. Michael Zander berichtet über eine Behindertenorganisation in Großbritannien, die sich im Bündnis mit Gewerkschaften und Antifaschisten gegen die Austeritätspolitik wehrt. Was es heißt, als Behinderter in Palästina zu leben, macht der Beitrag von Karin Leukefeld deutlich. Die Autorin porträtiert einen jungen Künstler mit Muskeldystrophie, der über die Grenzen von Gaza hinaus bekannt ist. Der US-Schriftsteller Kenny Fries erklärt, warum die Berliner Ausstellung »Homosexualität_en« in seinem Heimatland nicht möglich wäre.

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