Das vergebliche »Nein«
Von Hansgeorg Hermann
Am Donnerstag, 2. Juli 2015, meldete die linke Pariser Zeitung L’Humanité einen Erfolg der Solidarität mit den »Griechen, die ihren Gläubigern widerstehen«. In der Tat waren an diesem Tag in ganz Europa vor allem junge Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die damals bereits fünf Jahre andauernde Herrschaft des Finanzkapitals an der Ägäis zu protestieren. Gleichzeitig verlangten sie in mehr als 200 Städten des alten Kontinents Selbstbestimmung und Demokratie für die rund elf Millionen Menschen jenes Landes, das von Politikern nahezu täglich floskelhaft als »die Wiege« dieser Staatsform bezeichnet wird. In den ersten Monaten des Jahres 2015 wurde die fromme Formel als leeres Geschwätz entlarvt. Was war geschehen? Nichts Besonderes eigentlich, will man den Wahlsieg einer linken Partei und die darauf folgende Zusammenstellung einer Regierung aus Repräsentanten dieser Partei nicht als außergewöhnliches Ereignis charakterisieren.
Im Fall Griechenland war das anders und am Ende bitter für seine Einwohner. Am 29. Dezember 2014 hatte der bis dahin regierende rechtskonservative Ministerpräsident Antonis Samaras nach drei erfolglosen Versuchen, einen neuen Staatspräsidenten zu nominieren und durchzusetzen, das Parlament aufgelöst – nach griechischem Recht steht das dem jeweiligen Regierungschef zu – und für den 29. Januar des folgenden Jahres Neuwahlen angesetzt. Die in seiner Partei Nea Dimokratia (ND) kritisierte Entscheidung mündete tatsächlich in eine Niederlage. Bei einer mit 63,2 Prozent für griechische Verhältnisse schwachen Wahlbeteiligung stand am Abend der junge Chef der linken Formation Syriza, Alexis Tsipras, als Sieger fest. Die »Koalition der radikalen Linken« (Synaspismos Rizospastikis Aristeras) errang 36,34 Prozent der Stimmen und verfehlte mit 149 Mandaten die absolute Mehrheit in der 300 Köpfe zählenden Nationalversammlung um nur zwei Sitze.
Abgesehen davon, dass als notwendiger Partner nur die nationalkonservative, der Orthodoxen Kirche nahestehende Formation ANEL (Unabhängige Griechen) unter ihrem Anführer Panagiotis »Panos« Kammenos zur Verfügung stand – die Kommunisten lehnten jede Zusammenarbeit mit Syriza ab –, gingen Tsipras und seine Leute als »erste linke Regierung« in die Geschichte Griechenlands ein. Zum Graus des europäisch-atlantischen Finanzkapitals, das die politisch-ökonomische Autonomie des Ägäis-Anrainers bereits seit 2010 weitgehend eingeschränkt hatte.
Diktat durch Memoranden
Der hoch verschuldete griechische Staat – nicht viel schlimmer in der Kreide allerdings als der italienische, spanische oder französische – war zum Zeitpunkt der Wahl im Januar 2015 bereits mit zwei sogenannten Memoranden an den Rand der gesellschaftlichen Katastrophe gedrängt worden: durch Lohn- und Rentenkürzungen sowie personellen Kahlschlag in den staatlichen Verwaltungen, Krankenhäusern und im Erziehungssektor. Die Beschäftigungslosigkeit unter den jungen Lohnabhängigen zwischen 18 und 30 Jahren war auf bis zu 60 Prozent in den touristenlosen Wintermonaten gestiegen.
Es drohte ein drittes Memorandum, das vor allem auf den Verkauf und die Privatisierung jeglichen Staatsbesitzes zielte: Eisenbahn, Autobahnen, Strände, Inseln, was auch immer. Ein großes deutsches Schmierblatt forderte die »Pleitegriechen« auf: »Verkauft doch die Akropolis!«
Während Hedgefonds und Investmentagenturen und selbst deutsche Staatsunternehmen wie etwa die Frankfurter Flughafengesellschaft Fraport bereits wie die Geier auf billige, fette Beute lauerten, kündigten Tsipras und seine Minister – einem Parteitagsbeschluss vom 13. September 2014 folgend – zunächst den Schutz der Lohnabhängigen, der Betriebe und des Sozialsystems an. Sie würden, versicherte der Regierungschef, in Brüssel einen neuen Vorschlag unterbreiten, der vor allem mehr Zeit für die Rückerstattung der Schulden an die Banken garantiere und faire Bedingungen für die Gewährung der milliardenschweren sogenannten »Hilfspakete« beinhalte – eine Kampfansage in den Augen vor allem der deutschen »Freunde«, repräsentiert durch ihren strengen, Zeit seines Lebens der »schwarzen Null« in Haushaltsbeschlüssen nachjagenden Finanzminister Wolfgang Schäuble.
Erzwungener Neoliberalismus
Der Professor für ökonomische Geographie an der Athener Harokopio-Universität, Kostis Hadjimichalis, beschrieb den auch psychologischen Krieg der sogenannten Troika – Europäische Zentralbank, Internationaler Währungsfonds, Europäische Kommission – gegen die griechische Gesellschaft eindringlich in seinem im selben Jahr erschienenen Buch »Schuldenkrise und Landraub in Griechenland«: »Im Fall der Staatsverschuldung wurde aus dem ›verschuldeten‹ einzelnen Menschen zunächst eine Menschenmenge und dann eine ›verschuldete Gesellschaft‹. Gestützt auf das Narrativ der kollektiven Verantwortung traten griechische Politiker in Verhandlungen mit Gläubigern ein und akzeptierten extrem harte Auflagen zur Rückzahlung von Staatsschulden, wobei sie nicht einmal davor zurückschreckten, das öffentliche Vermögen des Landes als Hypothek einzusetzen. Federführend hierbei waren zunächst Pasok (Panhellenische Sozialistische Bewegung), danach eine Koalition aus Pasok, ND (Neue Demokratie) und Dimar (Demokratische Linke) und schließlich aus Pasok und ND. Die Erzählung von der ›moralischen Verpflichtung‹ diente als Legitimation, um seit 2010 einen neuen Machtapparat im Land zu etablieren, der auf dem Dualismus von institutioneller Regelabweichung – also dem nicht regel- und verfassungskonformen Handeln von Institutionen – einerseits und auf der brutalen Unterdrückung jeglichen Protests andererseits beruhte.«
Auch das »Ziel« der im kapitalistischen »Labor Griechenland« getesteten »Sparmaßnahmen« ist in Hadjimichalis’ Bestandsaufnahme nachzulesen: »Bekanntlich stützt sich der Neoliberalismus auf Austeritätspolitiker, den Druck auf Löhne und Gehälter, den Kahlschlag des Sozialstaats und Steuersenkungen für die Reichen.« Wie es zu der überbordenden »Verschuldung« Griechenlands kam, hatte Tsipras’ Finanzminister der ersten Stunde, Yanis Varoufakis – hier zitiert von Hadjimichalis –, bereits 2012 anhand der Rolle erklärt, die beispielsweise sogenannte »innovative, immaterielle Finanzprodukte« spielten: »Die dogmatischen Gewissheiten über ihr ›kontrolliertes‹ oder gar Nullrisiko beruhten auf Prognosen, denen komplexe mathematische Modelle für die Quantifizierung sozialer Beziehungen und menschlichen Verhaltens zugrunde lagen. Doch die fehlerhaften Hypothesen aus diesen Modellen wurden von internationalen Ratingagenturen positiv bewertet und so entstand eine umfassende Struktur aus selbstreferentiellen Prognosen, die Tausende Investoren, Versicherungsgesellschaften, Gemeinden und einfache Bürger dazu verleitete, ihre Rücklagen und ihr Erspartes ›sicheren‹ Finanzpaketen anzuvertrauen.«
Das Referendum
Raubkapitalistische Maßnahmen, das neoliberale Konzept »weniger Staat, mehr Markt«, sollten auch in Griechenland durchgesetzt werden. Hadjimichalis: »Die zu verhältnismäßig guten Konditionen bei den Banken erhältlichen Kredite riefen ›Investoren‹ aller Art auf den Plan und initiierten umfassende Prozesse der ›Akkumulation durch Enteignung‹.« Oligarchen wie den Erdöl-, Immobilien- und Schiffahrtsmagnaten Spyros Latsis – ein enger Freund und Berater des aktuellen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis – spülte die Austeritäts- und Privatisierungspolitik der Troika noch weiter nach oben, beispielsweise durch den billigen Ankauf von öffentlichem Bau- und Gewerbeland wie dem alten Athener Flughafen Elliniko. Andere dagegen, wie die kretische Philosophin und linke Aktivistin Eleni Ravani, kämpfen seither um ihr verschuldetes Eigenheim und, bislang vergeblich, um ihrer universitären Ausbildung entsprechende Anstellungen. Ihnen drohen Enteignungen wegen Verschuldung und Arbeitslosigkeit.
Den am 25. Juni 2015 von der Troika vorgelegten neuen Knebelvertrag – das dritte Memorandum – lehnten Tsipras und sein Kabinett am Tag darauf ab. In der Nacht zum 27. Juni kündigte der Regierungschef ein Referendum an, in dem das griechische Volk unmittelbar über die Fortsetzung harter Forderungen der »Institutionen« – wie die Troika neuerdings genannt wurde – entscheiden sollte. Das Ergebnis der Frage »Ναι ι Οχι«, nein oder ja zur Austeritätspolitik, ist bekannt: 9.286.380 Griechen waren wahlberechtigt, die überwältigende Mehrheit – 61,3 Prozent – stimmte mit »Oxi«, eine Überraschung selbst für Tsipras, wie sein Finanzminister Varoufakis später berichtete. Eine böse Überraschung auch für die neoliberalen politischen Falken wie Wolfgang Schäuble oder Sigmar Gabriel, den sozialdemokratischen Vizekanzler in Angela Merkels Kabinett, der mit wüsten Schimpfkanonaden in Richtung Athen auffiel. Doch dem vermeintlichen Sieg des Volkes, dem Triumph der Linken, folgte schnell die Niederlage.
Varoufakis, der am nächsten Morgen seinen Rücktritt als Finanzminister unterschrieb, gab später an, ihm sei schon am Abend des 5. Juli klar gewesen, dass sein Chef nicht – wie er selbst – den Widerstand gegen Troika und Finanzkapital aufrechterhalten oder sogar einen zeitweiligen Ausschluss aus der Euro-Zone riskieren, sondern die Forderungen des Memorandums unterschreiben würde. Varoufakis’ Bilanz, die er ein Jahr später auf seiner persönlichen Website veröffentlichte, lautete: »Einige Stunden später, nach einem Gespräch mit dem Ministerpräsidenten, wurde klar, dass er das Handtuch werfen wollte. Im Bewusstsein, dass die Troika es geschafft hatte, ihn (Varoufakis) aus dem Verkehr zu ziehen und durch einen Minister ersetzen zu lassen, der die Kapitulation unterschreiben würde, endete mein Rücktrittschreiben mit den Worten: Ich werde die Abscheu der Gläubiger mit Stolz mit mir tragen.«
Es kam, wie der Ökonom befürchtet hatte: Zwar gewann Tsipras die von ihm auf den folgenden 21. September angesetzte Neuwahl und brachte – mit Hilfe der rechtskonservativen Nea Dimokratia – das »Sparpaket« und die gesamte geplante Privatisierungsorgie durch das Parlament. Doch infolge seiner Politik verlor er die Wahlen am 8. Juli 2019 deutlich gegen seinen rechten Gegner Mitsotakis, der seither mit absoluter Mehrheit das Land regiert und »beherrscht«, wie der längst zerstreuten Linken nahezu täglich bewusst wird.

Einschätzung einer Aktivistin
Eleni Ravani beschrieb für diese Zeitung, wie sie die Geschichte des »Οχι« persönlich erlebt hat und welche Schlussfolgerungen sie und ihre Kampfgenossen daraus ziehen:
»Der zeitliche Abstand von zehn Jahren zum Referendum des Jahres 2015 erlaubt es uns, heute einige wichtige politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Es geht um Schlussfolgerungen, die nicht nur rein historische Bedeutung haben, sondern uns darüber hinaus helfen werden, die unruhige Welt zu begreifen, in der wir heute leben.
Zwischen 2010 und 2015 öffnete sich in Griechenland eines jener Fenster, die sich in der Geschichte der Völker selten öffnen. Im griechischen Fall war es ein Fenster, das – seit dem Abkommen von Varkiza (am 12. Februar 1945 geschlossenes Friedensabkommen zwischen der damaligen griechischen Regierung und der Widerstandsorganistion EAM; jW) und der Niederlage der Linken im Bürgerkrieg (1945-1949) – zum ersten Mal aufging. Das bürgerliche Lager des Landes sowie das politisch-ökonomische System unterstützten das Abkommen und setzten es nach dem Abgang der Militärdiktatur (1967–1974) erneut in Kraft. Ab 2010 standen die Bourgeoisie und die ganze Wirtschaft mit dem Rücken zur Wand. Die Wirtschafts- und Finanzkrise, in Wirklichkeit eine weltweite Krise des Kapitalismus, traf die Griechen aus verschiedenen Gründen weitaus härter als andere Länder und weckte dort viel tiefergreifende Zweifel am politischen System.
Die Zweifel wurden artikuliert von lokalen Protestbewegungen, verschiedenen Arbeitergruppen, deren Betriebe dichtgemacht hatten, Hunderten gemeinschaftlichen Hilfsorganisationen zur Unterstützung kranker Menschen im ganzen Land, von Arztpraxen, Kaufläden und Nachhilfeschulen, von der Initiative ›Wir schulden nichts, wir bezahlen nichts, wir verkaufen nichts‹, letztlich aber auch von Gegenströmungen in faschistisch geprägten Vierteln wie der – inzwischen verbotenen – Chrysi Avgi (Goldene Morgendämmerung). Alle zeigten in dieselbe Richtung: Die gesellschaftlichen Kräfte waren bereit, sich vom alten Klientelsystem zu trennen; sich der harten neoliberalen Politik entgegenzustellen, statt dessen ein anderes Gesellschaftsmodell und eine neue politische Ordnung zu finden – gegen jene Pläne, die eine kleine Führungsschicht des Landes und die Geldverleiher mit ihren Memoranden und der Verleumdung eines ganzen Volkes verfolgten.
Εs war ein entscheidender Moment, in dem ein anderer Weg begehbar schien – nicht nur in Griechenland, sondern für alle Völker in Europas ›Euro-Zone‹. In dieser besonderen Situation und mit dem Vorhandensein einer neuen gesellschaftlichen Kraft gelang es der damaligen Syriza, ein Regierungsprogramm der Hoffnung und des Widerstands zu entwickeln, das hauptsächlich von einer breiten linken Basis getragen wurde.
Eines wurde schnell klar: Syriza entpuppte sich als ›Retter‹ der gesellschaftlichen Führungsschicht des Landes, der Bankdirektoren und der europäischen Bosse; Syriza erledigte, was Regierungen der Rechten und der Sozialdemokraten zuvor nicht erledigt oder sich nicht getraut hatten zu erledigen. Das Referendum selbst war in Wahrheit in der versteckten Hoffnung verkündet worden, dass das griechische Volk zustimmen würde, dass es dem Terror und dem Katastrophengerede erliegen würde, das die Massenmedien und die politischen Marionetten des Systems verbreiteten. Trotz geschlossener Banken, der (deutschen) Drohung, das Land aus der Europäischen Union zu werfen und der angeblich bevorstehenden gesellschaftlichen Katastrophe verstand das griechische Volk, worum es bei dem Referendum wirklich ging: Wollen wir in einer Kolonie leben, ja oder nein? Wollen wir die griechische Autonomie fremdem Kapital übergeben, ja oder nein? Wollen wir die Zukunft selbst unserer ungeborenen Kinder mit einer solchen Hypothek belasten, ja oder nein?
Das griechische Volk stimmte mit überwältigender Mehrheit «Nein» – Οχι! Mit 61,3 Prozent. Es war dies der Moment, an dem ich mich an Cornelius Castoriadis erinnerte, der uns ›Selbstbestimmung‹ predigte – jene der Gesellschaft und die des einzelnen Menschen, die ihre sozialen Niederungen verlassen, die Satzungen, die Staatsaffären, um – unter Berücksichtigung der Umstände und der Probleme der Gesellschaft – neue Koordinaten, neue Erfahrungen zu markieren.
Zum großen Leid nicht nur der griechischen Linken, sondern – sagen wir es, wie es ist – der europäischen Linken, mündete das stolze ›Οχι‹ in ein drittes, demütigendes Memorandum; die Führungsschicht des Landes atmete erleichtert auf und stürzte sich Hals über Kopf zurück ins ›Business‹ – Erziehung, Kapitaltransfer, Energie usw., der rechte Staat kehrte zurück, eiserner und autoritärer als zuvor; während die linken Kräfte nun versuchten, eine Niederlage zu verdauen, die zehn Jahre nachwirken wird, und vermutlich auch ein paar Jahre mehr. Vielleicht hat sich tatsächlich ein historisches Fenster geschlossen; wir Griechen wissen allerdings, wie man neue Spalten öffnet und Löcher bohrt in die harte Barbarei des Kapitalismus. Und wir sind sicher, dass uns der Kampf voranbringt, zu künftig sich öffnenden Fenstern.«
In alle Winde zerstreut
Elenis typisch griechischen Optimismus teilt der italienische Altphilologe und kommunistische Griechenlandspezialist Luciano Canfora nicht. In einer E-Mail an den Autor nannte er die von Brüssel diktierten Memoranden ein »Massaker an den Griechen«. Canfora, der in Deutschland vor allem mit seinem, völlig zu Unrecht, umstrittenen Werk »Eine kleine Geschichte der Demokratie« bekannt wurde, fürchtet: »Nach einem Debakel ist ein Neubeginn immer schwer. Der bekannteste Fall ist der der Pariser Kommune: Nach der Niederlage vom Mai 1871 verfiel die sozialistische Bewegung Frankreichs zur schwächsten in Europa – jedenfalls bis ins Jahr 1914.«
In der Tat hat sich die griechische Linke in alle Winde zerstreut. Tsipras alte Regierungspartei Syriza hat seit dem Οχι-Tag drei Abspaltungen erlebt, übrig geblieben ist ein recht armseliges Häufchen ehemaliger Pasok-Anhänger, die nicht in ihre alte Formation zurückkehren wollten. Tsipras selbst trat am 23. September, nach einer erneuten Wahlniederlage gegen Mitsotakis, als Parteichef zurück und überließ den Laden einem in den USA sozialisierten Politikeinsteiger namens Stefanos Kasselakis, der seinerseits die Syriza später verlassen musste, weil er der Partei statt einer sozialistischen eine eher reaktionär-wirtschaftsliberale Politik aufdrücken wollte. Er ist inzwischen wieder in der Versenkung verschwunden, die Nachfolge übernahm mit Alekos Alavanos einer, den deutsche Linke als einen »braven Sozialdemokraten« charakterisieren würden.
Gegenwärtige Stimmung
Neueste Umfragen der konservativen Zeitung Kathemerini, die monatlich veröffentlicht werden, sprechen Bände: Im Juni 2025 ist die Syriza als eine bei der kommenden Parlamentswahl zu berücksichtigende Formation auf 4,75 Prozent gesunken. Sie liegt damit nur noch auf dem sechsten Platz jener Parteien, die für die Zusammensetzung der künftigen Volksvertretung in Frage kommen. An der Spitze der Liste bleibt, völlig unangefochten, die rechtsnational bis christlich-konservativ positionierte Nea Dimokratia mit ihrem Anführer und Regierungschef Kyriakos Mitsotakis. Dahinter folgen die wieder aufsteigenden Sozialdemokraten der Pasok mit 11,4 Prozent, deren Zuwachs übrigens vor allem auf Kosten der Syriza geht, und die Syriza-Abspaltung »Kurs zur Freiheit« (Plevsi Eleftherias) der ehemaligen Parlamentspräsidentin Zoë Konstantopoulou mit 11,09 Prozent. Die nach dem Verbot der extrem rechten Formation Chrysi Avgi aus ihr hervorgegangenen Faschisten der Ellinki Lysi (Griechische Lösung) sind mit 7,84 Prozent auch noch deutlich vor der Syriza plaziert. Nur knapp dahinter liegen die Kommunisten (KKE) mit 7,04 Prozent.
Interessant scheint, was das griechische Wahlvolk von den alten, inzwischen abgetretenen Regierungschefs hält und ob es ihnen eine politische Zukunft versprechen könnte. Wie die Demoskopen von Kathemerini herausfanden, würden 67,2 Prozent den merklich gealterten Alexis Tsipras nicht wieder wählen, davon 51,2 Prozent »auf keinen Fall«. Schlechter steht nur noch sein Vorgänger da: Einen Antonis Samaras wollen 79,6 Prozent der befragten Griechen nicht mehr in der Politik sehen, jedenfalls nicht in irgendeiner führenden Position. Die angeblich so »erfolgreiche Wirtschaftspolitik« des mit neoliberaler Härte regierenden Mitsotakis beurteilen selbst seine Wähler offenbar anders. Unter den von der Zeitung aufgelisteten »wichtigsten Problemen des Landes« rangiert an erster Stelle die galoppierende Inflation bei den Lebenshaltungskosten (52,9 Prozent), gefolgt von der medizinischen Versorgung, die dank Troika, Brüssel und Schäuble in Grund und Boden gestampft wurde (47,9 Prozent), und der nach wie vor viel zu hohen Beschäftigungslosigkeit (21,2 Prozent).
Hansgeorg Hermann schrieb an dieser Stelle zuletzt am 29. Oktober 2024 über die »ökologische Transition« in Griechenland und den Widerstand dagegen: »Grün bemäntelt«.
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Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (8. Juli 2025 um 16:54 Uhr)Die Kreditvergabe von Banken erfolgt nicht in erster Linie mit der Zielsetzung, möglichst rentierlicher und risikosicherer Tilgung, sondern um immer mehr Macht über ihre zunehmend abhängigen Schuldner zu erlangen. Der Schuldner wird so lange mit Krediten belastet, bis er unter dieser kumulierten Last zusammenbricht. Dann wird er komplett beraubt – nicht nur in Griechenland!
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