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Aus: Ausgabe vom 15.04.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Das große Warum

Kann man aus Suizid Bestseller machen? Jonathan Lees Büroroman »Joy«
Von Daniel Dubbe
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»Joy stürzt filmreif aus zehn Metern Höhe ins Foyer ihrer Firma, wo die Kollegen mit ihren Sektgläsern stehen, geschockt oder bloß irritiert«

Jonathan Lees zweiter Roman Joy erschien 2012 in New York. Lee war damals 31 Jahre alt. Er hatte in England Literatur studiert und danach sieben Jahre lang in einer großen Londoner Anwaltskanzlei gearbeitet. Dort gab es einen Todesfall. Eine junge Frau nahm sich das Leben. Dies dürfte der Auslöser für die Niederschrift des Romans »Joy« gewesen sein, der ebendies zum Thema hat: Eine erfolgreiche junge Anwältin, von der niemand dergleichen erwartet hat, begeht Selbstmord – oder war es ein Versehen, ein Unfall?

2021 – Jonathan Lee hatte inzwischen zwei weitere Romane veröffentlicht – bekam er den Posten eines Editor-in-chief beim britischen Verlag Bloomsbury (u. a. »Harry Potter«). Man bescheinigte ihm ein »ausgezeichnetes Auge für Bestseller, die Literaturpreise gewinnen, für wirkungsvolle, spannende und lesbare ›fiction‹ oder ›nonfiction‹«. Kurz, Jonathan Lee hatte nicht nur Literatur, sondern auch verkäufliche Literatur studiert.

Literatur zum Selbstmord füllt ganze Bibliotheken. Um nur drei der berühmtesten Autoren mit ihren Kernaussagen zu erwähnen: In Albert Camus’ »Der Mythos des Sisyphos« (1942) ist es der erste Satz: »Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord.« In Cesare Paveses Tagebuch »Das Handwerk des Lebens« (1952) dagegen sind es die letzten Worte: »Es schien leicht, wenn ich daran dachte. Und doch haben kleine Frauen es getan. Man braucht Demut, nicht Stolz. All das ist ekelhaft. Nicht Worte. Eine Geste. Ich werde nicht mehr schreiben.« Der stärkste Roman zum Thema bisher dürfte Drieu la ­Rochelle »Le feu follet« (Das Irrlicht, 1931) sein. Aktuell auf deutsch wohl aus politischen Gründen nicht verfügbar (Drieu La Rochelle engagierte sich Anfang der 1940er Jahre in Paris auf der falschen Seite), aber von Louis Malle kongenial verfilmt.

Etwas existentiell Schwerwiegendes also, das hier geschieht. Kann man daraus moderne Bestseller, verkäufliche Literatur machen? Der Leser bleibt dran, das ist bei Jonathan Lee garantiert, auch wenn sein Roman vielleicht Längen hat. Immer wieder wird die Frage gestellt: Warum hat Joy, deren Name kein Omen ist, sich umgebracht? Wie ist sie dazu gekommen? Sie sah gut aus, der Typ kühle Blondine, sie konnte sich durchsetzen, arbeitete für sehr viel Geld in der angesagtesten Kanzlei von London, war gut verheiratet und so fort.

Das ist die Außenseite. Doch wie sah es innen aus in dieser brillanten Joy Stephens? Im Zentrum des Buches stehen viele offene Fragen. Jonathan Lee bedient sich zweier wirkungsvoller und passender literarischer Konstruktionen, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. So folgen wir Joys letzten Stunden und Minuten von 1.00 Uhr nachts bis nachmittags 17.12 Uhr des Folgetags in einer Art Innenschau. Der Leser weiß, und das gefällt, immer etwas mehr als die Mitspieler im Roman.

Der Vorfall, der unerwartete und spektakuläre Sturz der jungen Anwältin Joys Stephens zog natürlich Kreise. Passend dazu geht Lee die Aufklärung des Falls multiperspektivisch an. Joys enge Vertraute erzählen ihre Versionen, ihr Ehemann, ihr Liebhaber, ihr Fitnesstrainer, ihre älteste Kollegin. Alle halten lange Monologe, alle reden pausenlos. Ihr Gerede scheint in Geschwätz auszuarten. Bis der Leser über kurz oder lang begreift, mit wem die Betroffenen eigentlich sprechen: Sie sind Patienten von Dr. Odd (wie ihn einer spöttisch nennt), dem Seelen­doktor vom firmeneigenen sozialpsychologischen Dienst. In dieser britischen Staranwaltskanzlei haben etliche Kollegen fachgerechte psychologische Betreuung bitter nötig: »Im Moment haben wir drei Anwälte mit Krebs, zwei mit Nervenzusammenbruch, eine, die ihr selbstverletzendes Verhalten überwunden hat, aber immer noch keine Scheren oder Heftklammerentferner haben darf, vier mit einem kürzlich verstorbenen Elternteil und zwölf mit chronischem Erschöpfungssyndrom.«

Der Seelenarzt ist ganz Ohr, und um so hemmungsloser lassen sich Joys Freunde und Bekannte aus. Sie umkreisen das Wie und das große Warum. Warum wollte Joy nicht mehr leben? War es Selbstmord oder doch ein Unfall? ­Jonathan Lee, dieser Eindruck drängt sich auf, hat sich das Warum letztlich selbst nicht beantworten können. Die existentielle Zwangsläufigkeit und Unausweichlichkeit des unwiderruflich letzten Aktes entgeht auch ihm. Es gibt Worte, Worte, Worte aber kein Begreifen.

Schon Joys Vater hatte sich umgebracht (Schilddrüsenkrebs). Ihre ­Mutter hat es versucht. Joys Partnerschaft ist nicht glücklich. Nach fünf Jahren Ehe, heißt es, gleicht ihr Mann weniger Hugh Grant und mehr einem Dorftrottel. Schon in der Eingangsszene erwischt sie ihn mit einem Callgirl. Das ist alles schlecht, aber kein Grund sich umzubringen. Was also war es? Die Abtreibung, die sie hatte? Oder weil das Kind ihrer besten Freundin ihr in Wimbledon in einem Moment der Unaufmerksamkeit abhanden kam? Ist es der Beruf »der sie täglich von ihrer wahren Person separiert?« Ihr erbarmungsloser, nie eingelöster Drang, ihren eigenen hohen Maßstäben zu entsprechen? Das ist viel, sehr viel auf einmal, aber zwangsläufig suizidal ist das nicht. »Oder übt dieser funkelnde Glaspalast inmitten der flirrenden Lichter Londons einen ganz eigenen Abwärtssog aus« wie der Klappentext andeutet?

Eigentlich haben wir es mit einem Zuviel an Gründen zu tun, die in gewisser Weise beinahe krampfhaft aufgehäuft werden. Immer noch ein Grund mehr, aber nichts davon hat eine existentielle Zwangsläufigkeit. Und doch stürzt Joy filmreif aus zehn Metern Höhe ins Foyer ihrer Firma, wo die Kollegen mit ihren Sektgläsern stehen, geschockt oder bloß irritiert.

Die Stimmen, deren ausufernde ­Reden diesen Roman füllen, sind eloquent, sie wissen alles von der Welt, sie können einem alles erzählen, mit mehr Worten als nötig sind. Das Ergebnis ist eine Eloquenz, die leer läuft. Die Auflösung dieses Romans, die wir natürlich nicht verraten, würde zu einem grotesken Netflix-Filmchen passen. Wie wir hören, lebt ­Jonanthan Lee inzwischen in New York und arbeitet an Drehbüchern.

Jonathan Lee: Joy. Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder von der Tann. Diogenes-Verlag, Zürich 2024, 375 Seiten, 25 Euro

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