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Aus: Ausgabe vom 26.03.2024, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Wissenschaftsleugnung

Schwarz und weiß

Wissenschaftsleugnung: Zuschreibung des Irrationalen oder irrationale Zuschreibung?
Von Frank R. Triklin
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Eine reine, allein der Erweiterung des Horizonts verpflichtete Wissenschaft gibt es seit der beinahe vollständigen Vergesellschaftung der wissenschaftlichen Arbeit kaum noch. Im 19. Jahrhundert konnte solche Arbeit auch außerhalb des universitären Betriebs stattfinden, ihre Finanzierung lag allerdings bei Mäzenen, heute würde man sagen: Investoren. Indem Wissenschaft mit der Zeit einen in sich geschlossenen und vom gesellschaftlichen, ökonomischen wie politischen Umfeld abhängigen Betrieb ausbildet, schränkte sich der Raum für individuelle wissenschaftliche Interessen und Ambitionen weiter ein.

Der so veränderte Betrieb beflügelte allerdings die wissenschaftliche Entwicklung, mithin die Entwicklung der Produktivkräfte unter kapitalistischen Verhältnissen. Mit den neuen Möglichkeiten gingen neue Dilemmata einher. Neben der Explosion des Detailwissens und den Forderungen der Gesellschaft an die Wissenschaft entwickelte sich ein interessengeleitetes Bestreben der Wissenschaftskreise, ihrerseits die Gesellschaft zu beeinflussen, sich politisch Gewicht und ökonomisch Sicherheit zu verschaffen. Dass dabei Partikularinteressen mehr Gewicht erhalten können und der gesellschaftliche Diskurs selbst beeinflusst wird, liegt in der Natur der Sache, ist aber für den wissenschaftlichen Betrieb bei Wahrung einer ausreichenden Objektivität weniger relevant.

Die wachsende Abhängigkeit von Fördertöpfen und Spenden sowie vom formellen Bedienen der Richtlinien hat eine durchaus skurrile Wissenschaftslandschaft zur Folge, es besteht die latente Gefahr öffentlich finanzierter Pseudoforschung. Ein bekanntes Beispiel ist das der »Kalten Kernfusion«, die 1989 von Stanley Pons und Martin Fleischmann im Journal of Electroanalytical Chemistry vorgestellt wurde. Um diesen Ansatz wurde nach seiner Widerlegung der Mythos unterdrückter Wissenschaft gewebt, und unter der Bezeichnung LENR erlebte er ein offizielles Revival: So schrieb etwa das Energieministerium der USA 2023 erneut Forschungen zu dem Thema im Umfang von 10 Millionen US-Dollar aus. Ein Grundprinzip der Wissenschaft besteht in der unabhängigen Nachvollziehbarkeit, um die Objektivität von Beobachtungen und Informationen zu gewährleisten. Im Falle der »Kalten Kernfusion« waren die zugrundegelegten Experimente selbst mit besserer Technik nicht reproduzierbar.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es geht nicht um die Millionen Wissenschaftler, die einer Berufung nachgehen oder einfach ihren Job machen, sondern um einen Betrieb, der Narzissmus begünstigt sowie Stimmungen und Meinungen produziert und jeden wegbeißt, der das in Frage stellt. Während allerdings in feudalen Zeiten die Kirche aus einer Position der politischen Macht heraus die Möglichkeit hatte, über richtig und falsch zu entscheiden, wird heute einem von Kapitalinteressen geleiteten Wissenschaftsbetrieb die Deutungshoheit zugesprochen. Die Techniken der Durchsetzung sind versierter: Framing, Labeling, Diskreditierung.

In diesen Kontext scheint auch jene Taxonomie der Wissenschaftsleugnung zu passen, die ab 2007 unter dem Acronym FLICC (deutsch PLURV) zusammengefasst wird. Als System von wertenden Begriffen und Definitionen kann sie sowohl gegen irrationale als auch gegen missliebige Erscheinungen eingesetzt werden. PLURV steht für: Pseudoexperten, logische Fehlschlüsse, unerfüllbare Erwartungen, Rosinenpickerei und Verschwörungsmythen. Mit dieser Schwarzfärbung glaubt die zuweisende Seite, im strahlenden Weiß dazustehen, Grautöne verblassen zusehends, vor allem in der politischen Diskussion. Ein berühmter logischer Fehlschluss heißt übrigens tertium non datur (es gibt nichts Drittes) und bedeutet einfacher: Schwarzweißmalerei. Ein weiterer, petitio principii (Zirkelbeweis) genannter logischer Fehlschluss lässt sich heute als etablierte Methode der psychologischen Kriegführung in Deutschland oder der EU wiedererkennen. Praktiziert wird dergleichen von ausgewiesenen »Experten«, plaziert über kaum transparente Verfahren in Gremien, verstärkt durch mediale Echokammern (ob Radio, TV, Presse oder Internet). Wer das Etikett nicht trägt, kann – tertium non datur – demnach nur Pseudoexperte sein.

Genauere Betrachtung zeigt allerdings, dass die PLURV-Merkmale sich auf der »weißen« Seite kaum seltener zeigen. Unerfüllbare Erwartungen, die in staatsoffiziellen Erzählungen ausgesprochen werden, sind etwa das Postulat eines ewigen Wachstums und die Möglichkeit technischer Lösungen, den Klimawandel aufzuhalten. Verschwörungsdenken betreffend ließe sich anführen, dass nicht wenige offizielle Erklärungen jüngerer geschichtlicher Vorgänge selbst Verschwörungserzählungen sind. Man muss nicht an Echsen in Politikeroutfits glauben. Die Hauptaufgabe des »Verschwörungstheoretikers« besteht in der Ablenkung von der Verschwörungspraxis. Der Reichstagsbrand, der Sender Gleiwitz, das Attentat auf J. F. Kennedy, der Monsanto-Konzern gaben Anlass für Erklärungen, die nur deswegen nicht als »Verschwörungstheorie« gelabelt wurden, weil sie von offizieller Seite kamen.

Immer wieder wirft diese offizielle Seite kriminelle und kritische Stimmen durcheinander. Aktuelles Beispiel ist die mentale Vorbereitung der Bevölkerung Westeuropas auf einen neuen Krieg im Osten, dem aus Gründen verteidigungspolitischer Staatsräson nicht widersprochen werden darf. Da rechte bis faschistische Gruppierungen wie Pegida, AfD, Freie Sachsen z. B. mit dem Spruch »Frieden schaffen ohne Waffen« durch die Straßen marschieren, ist jeder Linke, der das auch fordert, automatisch ein Rechter. Eine conversio simplex, ein weiteres Beispiel eines Fehlschlusses, sofern sie auf generalisierende Aussagen angewendet wird. Die Glaubwürdigkeitskrise der Wissenschaft resultiert demnach nicht nur, wie Felix Bartels an dieser Stelle schrieb, aus einer »Wissenschaftsskepsis als Ergebnis von Wissenschaftsgläubigkeit«, also aus einer Gefahr von außen. Es sind zu einem erheblichen Teil die Protagonisten und selbsternannten Hüter des Wissenschaftsbetriebs selbst, die von innen her die Glaubwürdigkeit und Seriosität der Wissenschaft fragwürdig werden lassen, mit dem Anspruch, sie seien mit ihrer Einteilung in Schwarz und Weiß, die sich nicht aus dem jeweiligen Inhalt, sondern aus der jeweiligen gesellschaftlichen Position ergibt, die alleinigen Besitzer der Wahrheit.

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