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Aus: Ausgabe vom 19.03.2024, Seite 16 / Sport
Fußball

Auf Schultern getragen

100 Jahre Joe Gaetjens: Bei der WM 1950 Torschütze eines 1:0-Sieges, »verschwand« der Haitianer 1964 unter einer US-gestützten Militärdiktatur
Von Glenn Jäger
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So blieb es bei jenem einen Tor, das Gaetjens in der 38. Minute artistisch köpfte

Er wurde auf Schultern getragen: Joseph »Joe« Gaetjens, haitianischer Fußballer, als Torschütze des 1:0-Sieges der US-Auswahl über England 1950 für eine der größten WM-Sensationen überhaupt verantwortlich. Geboren, so viel ist sicher, wurde er am 19. März 1924. Unbekannt ist sein Todestag: Unter der US-gestützten Diktatur von François »Papa Doc« Duvalier wurde er am 7. Juli 1964 von der Geheimpolizei Tonton Macoutes verschleppt – und blieb für immer »verschwunden«. Mutmaßlich wurde er am 10. Juli 1964 ermordet.

Britische Medien meldeten zunächst ein 10:1 für England: Zwar hatte die Nachrichtenagentur Reuters das korrekte Ergebnis aus Brasilien gekabelt, doch ein 1:0 für die USA musste ein Übermittlungsfehler sein. Die Buchmacher hatten eine Quote von 1:500 auf einen Sieg des Underdogs gesetzt. Die US-Auswahl war ein Team von Amateuren, die nebenher arbeiten gingen, wie Torwart Frank Borghi (Leichenwagenfahrer) oder eben Mittelstürmer Joe Gaetjens, der als Tellerwäscher in Rudy’s Cafe (New York) jobbte. Doch die Engländer vergaben Chancen en masse. Und so blieb es bei jenem einen Tor, das Gaetjens in der 38. Minute artistisch köpfte.

Gaetjens Spuren reichen zurück nach Bremen, von wo Joes Urgroßvater Thomas Geatjens als Handelsgesandter des preußischen Königshauses nach Haiti auswanderte. Einst ein wohlhabendes Familiengeschlecht, das erst infolge des Ersten Weltkriegs und der US-Besetzung Haitis (1915 ff.) abstieg. Doch Joe lernte das Kicken »definitiv nicht barfuß auf den Straßen von Port-au-Prince«, so sein Neffe James Gaetjens. Die US-Staatsbürgerschaft besaß Joe nie. Damals reichte es, in einem Land zu leben, um für dessen Farben zu spielen. Mit einem haitianischen Stipendium war Gaetjens zum Studieren nach New York gezogen. In seiner dritten Saison für den Verein Brookhattan wurde er mit 18 Treffern in 15 Spielen Torschützenkönig der American Soccer League.

Bei der WM 1950 gefeiert, kickte er daraufhin für zwei leidlich erfolgreiche Spielzeiten in Frankreich. Als er 1954 nach Haiti zurückkehrte, erwarteten ihn »Tausende Menschen am Flughafen«, so seine Schwester Mireille. Der weitere Verlauf: Heirat, drei Kinder, Leitung einer Reinigung, leidenschaftlicher Jugendtrainer. Erzählt wurde gerne, er habe an Kinder aus Armenvierteln tütenweise Geld verteilt. Politisch im engeren Sinne war Gaetjens nicht, und doch geriet er 1964 in die Fänge der Geheimpolizei: Die Familie Gaetjens, vor allem der ältere Bruder Gérard, hatte bei den Präsidentschaftswahlen von 1957 den bürgerlichen Kandidaten Louis Déjoie unterstützt. Als sich Mutter Toto und Schwester Mireille am 1. Januar 1965 in der Neujahrssprechstunde von »Papa Doc« lautstark nach dem Verbleib des »Verschwundenen« erkundigten, war Joe wohl bereits tot. Ein Los, das er in der Ära Duvaliers mit rund 30.000 anderen teilte.

Die Wunden saßen tief. In einer kurzen Dokumentation von 2010 ist Lesley Gaetjens, einer von Joes Söhnen, zu sehen, wie er das denkmalgeschützte Gefängnis Fort Dimanche besucht. In der Ära Duvalier fanden dort laut New York Times 3.000 Gefangene den Tod. Er habe stets daran geglaubt, so Lesley, sein Vater würde »eines Tages auftauchen«. Erst acht Jahre nach Joes Entführung hatte die Familie Gewissheit über den Tod. In der Doku geht Lesley weiter zum Nationalstadion. Erst als sein Name fällt, öffnen sich die Tore. Es sei »beeindruckend«, so Gaetjens tränenerstickt, dass sie sich »nach all den Jahren« noch an seinen Vater erinnerten. Offizielle des haitianischen Fußballs kommen hinzu, einer von ihnen holt ein gut verwahrtes Foto hervor: Joe auf Schultern getragen.

Die mittelbare Verantwortung der USA für den Tod Gaetjens bleibt meist unerwähnt. Richtig ist: Sie hatten ihn zeitweise fallenlassen. Ende der 50er Jahre konnte Duvalier, so bei der Ausbildung von Truppen, »immer auf die Marineinfanterie der USA zählen«, so William Blum, einst Mitarbeiter des State Department. Marinekommandeur Robert Debs Heinl erhielt im Januar 1960 aus dem US-Außenministerium die Anweisung: »Oberst, Sie können unsere Ziele in Haiti vor allem dadurch fördern, dass Sie Duvalier an der Macht halten.« Anfang der 60er Jahre förderten die USA kurzzeitig Regimegegner, teils mit Waffen. Doch beim Versuch, Kuba niederzuhalten, setzten sie wieder auf »Papa Doc«. Und wer war nach dessen Tod im April 1971 der einzige anwesende Diplomat, als der 19jährige Jean-Claude »Baby Doc« Duvalier als neuer Präsident vereidigt wurde? Richtig, US-Botschafter Clinton Knox.

Ungeachtet dessen wurde Joe Gaetjens, einer der »Black Pioneers« des US-Fußballs, 1976 posthum in die US Soccer Hall of Fame aufgenommen.

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