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Aus: Ausgabe vom 13.02.2024, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Wissenschaftskommunikation

Enttäuschte Erwartungen

Wissenschaftsskepsis als Ergebnis von Wissenschaftsgläubigkeit
Von Felix Bartels
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Kann nicht alles, das aber besser als alle anderen: Wissenschaft

Im Anfang war das Wort. Und das Wort war »Logos«. Die Welt sprach Griechisch – das tut sie bis heute, gleich welche Sprache sie gerade benutzt. In der archaisch-klassischen Periode der Hellenen ist alles schon angelegt. Noch immer müssen wir dieselben Probleme handhaben, wenn auch komplexer, verzwickter und weitaus zerfranster. Obwohl man so viel mehr weiß, schaut man weniger optimistisch auf das eigene Treiben. Je mehr wir über die Welt wissen, desto weniger glauben wir, sie zu kennen. Doch wir kennen sie besser, wenngleich jede Antwort neue Fragen nach sich zieht, das Nichtwissen also mindestens so schnell wächst wie das Wissen. Und natürlich, weil jenes »Wir« allein der Stoffmenge wegen von keinem einzelnen mehr erfahren werden kann. Wir sind uns selbst über den Kopf gewachsen.

Die erkenntnistheoretischen Grundfragen allerdings bleiben zwischen zwei Ohren behandelbar. Von Thales sind zwei Hauptsätze überliefert. Alles, behauptet er, komme aus dem Wasser. Alles, behauptet er auch, sei voller Götter. Die Sätze beißen einander. Eben deshalb können sie dem modernen Menschen einen Schlüssel geben, das Verhältnis von Wissen und Erkenntnis, wissenschaftlicher Einzeldisziplin und Weltzugriff bestimmbar machenb. Das Wasser verkörpert die stoffliche Natur der Welt, Materie, um es in marxistische Terminologie zu übersetzen. Die Götter hingegen scheinen etwas Geistiges zu meinen, das in der stofflichen Welt verborgen liegt, ohne selbst stofflich zu sein. Wozu braucht Thales die Götter, wenn er schon das Wasser hat?

Dass die Welt stofflicher Natur ist, darauf lässt sich aus der Alltagserfahrung kommen, es ist evident. Nicht erklären kann man damit das Werden: Bewegung, Wachstum, Entwicklung. Thales eröffnet mit seinem Göttersatz die spekulative Philosophie, die Einführung logischer Griffe, die leisten, was Erfahrung und Erfahrungswissen nicht leisten können, zu erklären nämlich, warum ist, was nicht war, oder wird, was nicht ist. Das spekulative Denken wird somit zwar logisch vermittelt, ergibt sich aber gleichfalls aus dem Erfahrungswissen. Parmenides folgt dieser Ordnung mit seiner Beziehung von Aletheia und Episteme, desgleichen Aristoteles, der die Einzelwissenschaften als erster nach Disziplinen organisiert und das Allgemeine dem Einzelnen nicht entgegensetzt, sondern aus ihm ermittelt.

Philosophische Aufgaben

Mit der Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen in der Neuzeit hat sich das Verhältnis umgekehrt. Ging die Philosophie einmal aus der konkreten Befassung mit der Welt hervor, wirkt sie heute, längst verselbständigt, vielmehr in diese hinein. Und nicht nur als spezielle Disziplinen, als Einzelwissenschaft vom Allgemeinen sozusagen, sondern auch als methodische Tradition (und interner Kampf) innerhalb der einzelnen Fachgeschichten. Insofern sie selbst Disziplin geworden ist, hält man sie gern für eskapistisch. Vielleicht aber muss sie genau das sein, um den Wissenschaften handgreiflich zu werden. Wo die Einzelwissenschaften schon jeweils für sich und erst recht zusammengenommen so komplex geworden sind, dass kein philosophisches System sie (wie im 19. Jahrhunderts noch) fassen könnte, scheint Philosophie besser beraten, sich auf ihre genuinen Fragen zu beschränken. Derart bescheiden kann sie wieder mit den Wissenschaften in Kontakt treten, als kritisch prüfendes Verfahren und Sensibilisierung für unzureichendes Denken.

Allerdings scheint ihr Abtreten ein Vakuum hinterlassen zu haben. Niemand kommt mehr auf den Gedanken, Philosophie müsse alles leisten. Von den Einzelwissenschaften wird das häufig geglaubt. Ich meine, dass sich die jüngeren Entwicklungen des volkstümlichen Denkens, und nicht erst seit der Coronapandemie, als Enttäuschung eines zu hohen Anspruchs an die Wissenschaft verstehen lassen. Das betrifft die politisch verkleidete Wissenschaftsskepsis, die Forschung auf den institutionellen Zusammenhang mit wirtschaftlichen und politischen Interessenten reduziert, ebenso wie die Dynamik alternativer Denkwelten, anschaulich etwa in der Entwicklung der sogenannten Querdenker oder anderer Gruppen, die umfassende Verschwörungserzählungen pflegen, bis hin zur Besinnung aufs Esoterische, worin aller Irrationalität zum Trotz das Bedürfnis nach einem geschlossenen Weltbild zum Ausdruck kommt, das jedoch einer Prüfung durch konkretes Wissen nicht bedarf.

Seit anderthalb Jahrzehnten macht ein Schema die Runde, das im deutschen Sprachraum unter dem Schlagwort PLURV bekannt ist. Es erfasst fünf Techniken der Wissenschaftsleugnung, die ihrerseits wieder Subgenres führen. Es liest sich wie eine freudlose Version der Schopenhauerschen Eristik und hätte doch ein Beispiel eben jener Art Wirkung sein können, die philosophisches Denken unter den Bedigungen der unübersichtlichen Moderne auf die Wissenschaften noch haben kann. Die fünf großen Buchstaben stehen für: Pseudoexperten, Logische Fehlschlüsse, Unerfüllbare Erwartungen, Rosinenpickerei, Verschwörungsmythen (englisch »FLICC«: Fake experts, Logical fallacies, Impossible expectations, Cherry picking, Conspiracy theories). Das PLURV-Schema hat seinen Wert vor allem in der Wiedererkennung. Wer die Akteure der modernen, nicht simpel religiösen, sondern wissenschaftsskeptischen Irrationalität beobachtet, begegnet in deren Äußerungen den fünf Techniken und ihren Subgenres.

Falsche Wünsche

Allerdings addiert das Schema bloß, was voneinander in Abhängigkeit zu denken wäre. Logische Fehlschlüsse (wie etwa die petitio principii, das tertium non datur oder das seit der Coronapandemie bekannte Präventionsparadox) sind nicht spezifische Eigenheit der Wissenschaftsleugnung, sie finden sich im Wissenschaftsbetrieb zwar seltener, aber gewiss nicht selten. Wissenschaftsleugnung beginnt nicht bei logischen Fehlschlüssen, sondern dort, wo sie zweckgerichtet eingesetzt werden. Das zu unterscheiden ist allerdings kaum möglich. Ähnliches gilt vom cherry picking, erkennbar daran müsste die Absicht sein, eine bestimmte These zu widerlegen oder eine bestimmte Antithese zu stützen. Auch hier kommt man leicht ins Mutmaßen über persönliche Motive, wie zum anderen auch von der Wissenschaft gilt, dass sie gezielt Daten auswählt und zweckgerichtet selektiert (obgleich zugegeben das anekdotische Argument in der Wissenschaft selten, bei Wissenschaftsleugnern praktisch immer zu finden ist). Schließlich scheint im Begriff des falschen Experten eine Art Standesdünkel transponiert zu sein. So richtig ist, dass die Blasen alternativen Wissens ihre eigenen Experten brauchen, als Gegenbild zu den etablierten Erklärern, wie zum anderen die Experten des Halbwissens es natürlich in Halbwelten leichter haben zu reüssieren, so konvenient scheint der Versuch, die Thesen eines Autors, der außerhalb des Wissenschaftsbetriebs steht, damit zu widerlegen, dass er außerhalb dieses Betriebs steht. Es ist nicht zwingend, dass er deswegen auch falsch liegen muss.

Enger scheint der Zusammenhang der verbleibenden zwei Merkmale. Verschwörungserzählungen treten in politischen Kontexten vor allem dort auf, wo die geläufige Erzählung unvollständig bleibt. An deren Stelle tritt dann eine alternative Erklärung, die in der Regel noch lückenhafter ist. Bei Wissenschaften trifft die alternative Erklärung umgekehrt dort auf, wo Lehrmeinungen stimmig sind. Erkenntnisse, die reichlich geprüft wurden, sind auf der Sachebene schwer zu widerlegen. Die auf Wissenschaft bezogene Verschwörungserzählung attackiert nicht die Interpretation des Datenmaterials, sie zweifelt die Daten selbst an, die gesamte Forschung mit all ihren Ergebnissen und Einrichtungen wird als inszeniert betrachtet. So kann die Erzählung am empirischen und forschungsmäßig aufbereiteten Material vorbei ein geschlossenes Weltbild herstellen, das anders nicht zu haben wäre. Denn das Wissen der Wissenschaften ist nie vollständig, ständig im Fluss bzw. erneuert, und – wie oben angedeutet – für den einzelnen nicht mehr zu haben. So erweist sich, was als fundamentale Skepsis den Wissenschaften gegenüber auftritt, tatsächlich als Ergebnis eines Glaubens an die Wissenschaft. Des Wunsches, alle Fragen abschließend geklärt zu haben, den die Wissenschaft nie erfüllen kann.

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