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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Höhn-Papier stößt auf Ablehnung vom 23.02.2021:

Was heißt »Verantwortung«?

»Die Bundesrepublik kann und sollte mehr Verantwortung übernehmen.« Hätte ich den Autor erraten sollen, ich hätte zuerst auf Leute wie Joachim Gauck oder Frank-Walter Steinmeier getippt. Auch deren unbedachte bis hinterlistige Äußerungen bezogen »Verantwortung« nicht etwa, was allenfalls vertretbar wäre, auf Entwicklungshilfe, sondern auf schnöde Militärausgaben! Auf das BIP bezogen, wurden für Entwicklungshilfe seit 1970 nicht etwa zwei Prozent, sondern gerade mal 0,7 Prozent angestrebt und erst mit 45 Jahren Verspätung erreicht, nachdem Schweden, Norwegen, Dänemark, die Niederlande und Luxemburg ihre Hausaufgaben etwas pünktlicher erledigt hatten. Für die »Verteidigungs«-Kulisse für Paranoide verlangen NATO-Stoltenberg und – in diesem Punkt leider austauschbare – US-Administrationen in den letzten Jahren völlig willkürlich übertriebene zwei Prozent. Daraus ergibt sich die selbstverständliche Forderung, beide Zielmarken als Sofortmaßnahme unverzüglich austauschen, bevor in weiteren Schritten für Entwicklungshilfe deutlich über zwei und für Militär unter 0,7 Prozent erreicht werden. Aber nein: So meinten Gauck und Steinmeier ihre Pseudoverantwortung leider nicht, so dass es erstaunlich ist, wieso »Verantwortung« noch nie zum »Unwort des Jahres« gekürt wurde.
Nur: Das war gar nicht irgendein Gauck oder Steinmeier, sondern der Genosse Matthias Höhn! Vorschlag zur Güte: Angesichts des offenkundigen Personalmangels beider Ex-»Volksparteien«, von denen keine mehr ernsthafte Spitzen- oder Kanzlerkandidaten oder auch nur Parteivorsitzende zu finden in der Lage ist – wäre es da nicht angebracht, wenn Höhn vielleicht bei der SPD aushelfen würde? Den Genossen Dietmar Bartsch könnte er gleich mitnehmen, oder sie teilen sich auf die beiden Ex-»Volksparteien« auf: Mit grober Militärverharmlosung passen beide in beide. Bartsch meinte schon vor 20 Jahren, die damalige PDS sei »keine pazifistische Partei«, wobei er Pazifistinnen und Pazifisten immerhin generös »einen Platz« in ihr einräumte. Ob wir nun auf »R2G« schielen mögen oder nicht – was allerdings mindestens die Existenz einer sozialdemokratischen Partei anstelle der »S«PD voraussetzte, wobei eben jene »S«PD zwischen 2013 und 2017 genau diese damals noch reale Möglichkeit vor lauter Promilitarismus ungenutzt ließ: Bartsch beeilte sich ohne erkennbaren Anlass mit dem Hinweis, bei einem Mitregierungsversuch die Soldatinnen und Soldaten munter weiter dort verheizen zu wollen, wo sie nichts zu suchen haben, und bis ultimo der obsoleten NATO treu bleiben zu wollen. Mit derartigen Pseudo-CDU-Programmen scheitert »R2G« dann allerdings nicht nur am aktuellen Fehlen einer nicht nur dem Namen nach sozialdemokratischen Partei, sondern auch an einer nach zu vielen Eigentoren nicht mehr parlamentarisch vertretenen Linken. Wieso begannen wir denn, auch im Westen Chancen zu haben? Bestimmt nicht mit »Wählt uns, weil wir CDU-Politik machen wollen«! Andererseits muss es spätestens seit der Aufgabe des Friedenswillens durch die Grünen unter den Stimmbürgerinnen und -bürgern erhöhten Bedarf nach pazifistischen, antibellizistischen oder antimilitaristischen Listen geben. Notfalls würden selbst Neugründungen von Parteien erforderlich, was aufgrund der Sperrklausel allerdings noch längere Zeit bis zur parlamentarischen Präsenz und Wirkmacht bräuchte. Da wäre es ungleich besser, das Zeitfenster einer potentiell durchaus noch erfolgreichen Linken für Friedenszwecke zu nutzen, statt es für das Gegenteil zu beschmutzen, zuzuwerfen und abzuschließen. Trennen wir uns lieber von Bartsch und Höhn, wenn die sich nicht an unsere Grundwerte halten wollen.
Die Positionierung unseres Studierendenverbands macht da wieder Mut: Eigentlich wollte ich für den Rest meines Lebens Genosse bleiben. Aber Kriege mag ich nun mal nicht. Der Frieden ist der Ernstfall, und für Frieden und – natürlich auch atomare – Abrüstung hätte sogar der Begriff der Verantwortung wieder Sinn.
Bernhard May, Solingen
Veröffentlicht in der jungen Welt am 27.02.2021.