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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel Bildung in Coronazeiten: Vergessen und abgehängt vom 22.01.2021:

Wie kommen wir da raus?

Ich arbeite als Erzieherin im sozialpädagogischen Bereich einer städtischen Freiwilligen Ganztagsgrundschule in Saarbrücken. Nachdem ich seit März letzten Jahres alles mitgemacht habe, was die Coronapandemie den Schulen aufgezwungen hat, kann ich nur sagen: Ich bin für eine offene Schule für alle Kinder, aber bei jeweils halbierter Schülerzahl pro Zeiteinheit, damit genug Raum, Zeit zum Händewaschen etc. da wäre, damit im Klassenzimmer oder im Speisesaal Abstand gehalten werden kann. Wenn ich zu bestimmen hätte, hätte ich das Ganze entzerrt: Jedes Kind hätte den Anspruch auf ein paar Stunden Schule täglich, entweder vormittags oder nachmittags. Das würde bedeuten, dass jeweils die Hälfte der Kinder vormittags, die Hälfte nachmittags da wäre. Das sollte klappen, wenn alle Nachmittagskräfte aus den vielen gebundenen und freiwilligen Ganztagsschulen eingesetzt würden und die Lehrer bereit wären, abwechselnd oder zur Hälfte nachmittags zu arbeiten. Entweder man verdoppelt das Personal oder halbiert die angebotene betreute Zeit. Nur so kann man die Anzahl der Schüler halbieren, und das wäre schon sehr sinnvoll, und nicht nur wegen der Pandemie. Denn auch mir erscheint der Präsenzunterricht als die sinnvollste Lösung gerade für die Grundschule. Sicher ist es für die Kinder viel besser, zur Schule zu gehen, und sie äußern das auch selbst, wenn wir sie fragen. Für Jugendliche scheint es mir fast unaushaltbar zu sein, sie zu zwingen, keine Kontakte zu haben. Wir würden den Kindern und Jugendlichen vermutlich alle gerne helfen und ihnen das geben, was sie für ihre Entwicklung benötigen, aber wir Erzieher und Lehrer sind ja auch Menschen, denen täglich geraten wird, Kontakte möglichst zu reduzieren, und wir sind um die eigene Gesundheit und die unserer Liebsten nicht weniger besorgt als andere. Gerade die Eltern aus den systemrelevanten Berufen, deren Kinder bevorzugt in die Notbetreuung der ersten Welle durften, sind am stärksten gefährdet, sich zu infizieren. Das war und ist uns Erziehern natürlich bewusst. Wir gehen (zum Teil) noch immer mutig zur Arbeit. Immerhin stellt der Arbeitgeber ein paar Masken und Desinfektionsmittel, und wir dürfen uns oft kostenlos testen lassen … Irgendwann, vermutlich in der zweiten Jahreshälfte, werden auch wir an der Reihe sein, uns impfen zu lassen. Bevor sich die Frage nach der Impfung also für uns persönlich erst überhaupt stellt, werden – so fürchte ich – die Schulen längst wieder im alten Modus geöffnet sein.
Eines kann ich aus der Erfahrung von Schließung, Notbetreuung, Öffnung im Hybridverfahren, Schließung, wieder Notbetreuung etc. sagen: Es wäre für alle Seiten besser, wenn zur selben Zeit die Hälfte der Schülerinnen und Schüler da wäre. Die Lehrer haben während des Hybridunterrichtes (die halbe Klasse eine Woche zu Hause, eine Woche in Schule präsent, immer wechselweise, so dass jedes Kind jede zweite Woche seine Lehrerin zu Gesicht bekam) mitbekommen, wie gut sie die einzelnen Kinder fördern können, wenn die Klassen nur halb gefüllt sind. Dann klappt es auch besser mit der Integration, die Vorbedingung zur Inklusion ist.
Eine Lehrerin äußerte sich entspannt darüber, dass sie viel mehr Zeit für die Grundlagen Rechnen, Schreiben, Lesen hatte, weil möglichst wenige Erwachsene pro Klasse zuständig sein sollten.
Gleichzeitig Präsenz- und Onlineunterricht zu halten ist für die Lehrer sehr zeitaufwendig und anstrengend, fürchte ich …
Das Gute an der Pandemie: Wir haben erfahren, wie es anders sein könnte. Wenn die Angst nicht wäre, sich auf dem Weg zur Arbeit oder bei den KollegInnen anzustecken, wäre das Arbeiten gerade auch in der Zeit der Halbierung der Schülerzahlen sehr schön, sehr entspannt gewesen. Es war wundervoll und sehr befriedigend, wie es plötzlich möglich war, einzelne Kinder gezielt zu fördern, statt (das sage ich jetzt ein wenig polemisch) nur Ordnungspolizistin auf dem Schulhof zu spielen. Das sind die positiven Seiten der Pandemie.
Am Anfang der Pandemie hatten wir – glaube ich – alle die Hoffnung, dass wir in allen Bereichen des Lebens darüber nachdenken würden: Wie wollen wir leben? Und dass wir die Dinge verändern würden. Jetzt scheint es nur noch darum zu gehen, wann alles wieder so sein wird wie vor der Pandemie. Ich denke, dass die Schulen, wenn sie geöffnet werden, wieder genauso vollgeknallt werden wie vorher, derselbe Raum, dieselbe Anzahl an Lehrern, dieselbe Verdichtung von Problemen. Und jede Menge billige Lösungen, um Probleme kurzfristig scheinbar abzumildern, also zum Beispiel dem Lehrermangel mit günstigen Integrationskräften zu begegnen, die dann das Menschenrecht auf Inklusion für Kinder durchsetzen sollen, die in einer halbierten Klasse vielleicht auch durch die Klassenlehrerin integriert werden könnten. Und die Ärmsten werden wieder gegeneinander ausgespielt werden. Die schlecht verdienende Erzieherin, die für einen höheren Lohn streikt oder sich aus Angst vor Corona krankmeldet, schadet der Alleinerziehenden mit ihren drei Kindern. Die eine Proletarierin, die ihre Arbeitskraft verkaufen muss, ist plötzlich Feindin der anderen, die nichts besitzt als ihre Kinder und noch nicht mal ihre Arbeitskraft verkaufen kann, solange gestreikt wird oder die Schulen geschlossen sind. Wie kommen wir da bloß raus, wenn noch nicht einmal so eine Krise wie 2020/2021 etwas ändert?
Sonja Ruf
Veröffentlicht in der jungen Welt am 26.01.2021.
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  • Sicherer Präsenzunterricht

    Man sehe sich diesen Film an: https://www.youtube.com/watch?v=DzkhRs5LG0I&feature=emb_logo Das steht in der Beschreibung: »Die Kinder in den Schulen hingegen werden ihrem Schicksal weitgehend schut...
    Heinrich Hopfmüller