Leserbrief zum Artikel Georg Lukács: Leitbild klassischer Humanismus
vom 24.10.2020:
Ökonomische Hintergründe fehlen
Obwohl der klassische Humanismus nicht revolutionär und in jeglicher Hinsicht von den beengenden, rückständigen Verhältnissen in den damaligen »Deutschländereien« geprägt war, stellte Lukács die deutsche Klassik als den »ideologischen Reflex« der Französischen Revolution dar, trotz der Begrenzungen einer noch von den mittelalterlichen Handwerkermanufakturen bestimmten Gesellschaft. Die damalige deutsche Entwicklung war davon geprägt, dass zentrale Positionen dieses intellektuellen Humanismus einfach allgemein nicht verstanden und praktiziert wurden. Die Orientierung auf Fortschritt, Demokratie und Vernunft wurde systematisch untergraben, was sich in Deutschland anhand der geschilderten Misere, der Unterdrückung demokratischer Bewegungen und der Verdeutschung der Entwicklung negativ auswirkte. Lukács' wirksamstes Werk, »Geschichte und Klassenbewusstsein«, trug zur Linksorientierung der europäischen Intellektuellen in den 1920er Jahren bei. Andererseits ist für Lukács der klassische Humanismus ein Leitbild der »fortgeschrittensten Schicht im damaligen Deutschland«. Damit wird die Geschichte sehr einseitig betrachtet und als spezifisch deutscher Weg eher verherrlicht. Lukács, wie die meisten Philosophen, hatte keine Ahnung von der mit der industriellen Revolution aufkommenden, immer mehr bestimmenden Ökonomie, welche schließlich in Deutschland im Faschismus mündete. Damit werte ich seine gutgemeinten »Reflex«-Analysen (...) als sehr einseitig und als sehr schmeichelhaft.