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Leserbrief zum Artikel Georg Lukács: Leitbild klassischer Humanismus vom 24.10.2020:

Jenseits der Barrikade

Mit dem Hinweis auf das Leitbild des klassischen Humanismus und damit auf die bildungsmäßigen sowie kulturellen Voraussetzungen für eine »Menschwerdung des Menschen« ist aktuell leider noch nicht viel gewonnen. Zufällig studierte ich zum Thema vor kurzem tatsächlich die von Jürgen Pelzer in den Quellen erwähnte Schrift von Georg Lukács, »Wie ist die faschistische Philosophie in Deutschland entstanden« (1933), worin Lukács vor allem davor warnt, dass auch ehrliche Intellektuelle vor der Konsequenz zurückschrecken könnten, in der Weltanschauung des Nationalsozialismus den Endpunkt jener geistigen Entwicklung zu erblicken, welche sie selbst mitgemacht haben. Leider ist diese Schrift erst 1989 und lediglich in der ersten Auflage im Aufbau-Verlag unter dem Titel »Zur Kritik der faschistischen Ideologie« erstmals in deutscher Sprache erschienen. Was möchte Lukács dem Leser mit diesen seltsam anmutenden Sätzen mitteilen? Da schreibt Lukacs also 1933 im August im Vorwort ganz wörtlich:
»Und hier, wo an der einzigen Stelle dieses Buches der Verfasser subjektiv wird, sei es ihm gestattet, darin noch kurz fortzufahren. Dieses Buch ist bald nach der Machtergreifung Hitlers nach meiner notgedrungenen Emigration in wenigen Wochen niedergeschrieben worden. Ich kann aber zugleich sagen: Dieses Buch entsteht seit 25 Jahren (seit 1908 dann also). Als Schüler Simmels und Diltheys, als Freund Max Webers und Emil Lasks, als begeisterter Leser Stefan Georges und Rilkes habe ich die ganze hier geschilderte Entwicklung selbst miterlebt. Allerdings – vor bzw. nach 1918 – auf verschiedenen Seiten der Barrikade. Den Lesern also, die vor den Konsequenzen dieses Buches, vor der Anerkennung der Einheitlichkeit der Entwicklung des bürgerlichen Denkens der imperialistischen Periode bis zum Faschismus zurückschrecken, muss ich hier betonen, dass die Feststellung des Zusammenhangs keine rasche Konstruktion aus polemischen Rücksichten gewesen ist, sondern die Zusammenfassung und Verallgemeinerung eines miterlebten Lebensalters. Und da mir selbst diese Rettung aus den Schlingen des ideologischen Parasitismus gelungen ist, glaube ich, das Recht zu haben, meinesgleichen an gesellschaftlicher Abstammung zuzurufen: Rottet die Ideologie der monopolkapitalistischen Periode restlos, mit Stumpf und Stiel in euch aus, wenn ihr den Faschismus bekämpfen und nicht von ihm verschlungen werden wollt.«
Aus verschiedenen Gründen ist dies sicher eine autobiographische Schlüsselstelle für Georg Lukács' theoretisches Selbstverständnis bis zu seinem Lebensende und insbesondere in diesen erneut finsteren Zeiten ein Kompass für einen Zugang zum Gesamtwerk. Ich folgere aus dem gebrachten Zitat, dass man in heutigen Zeiten als Intellektueller sehr aufpassen muss, wenn man sich in der aktuellen Epoche nicht plötzlich und zwangsläufig auf der anderen Seite der Barrikade wiederfinden möchte. Theoretisch wie praktisch. Denn bedenkenswert ist exakt in diesem Zusammenhang nach vor eine weitere Stelle in Georg Lukács’ »Intellektuelle und Organisation« (1920):
»Denn wie könnte etwa ein Student als Student Sozialist sein, wo das Wesen des Studententums auf dem Gegensatze des Studierten und der Nichtstudierten, auf dem Bildungsprivileg beruht – darauf also, dessen Abschaffung der Sinn des Sozialismus ist?«
Gleiches gilt nach Lukács selbstverständlich für jegliche Form von Akademikern. Deren selbstverständliches Bildungsprivileg samt der damit verbundenen immanenten Deutungshoheit betrachtet zumindest Lukács als zirkuläres Problem. Die Zeiten für die nicht durch den Zufall der Geburt mit den Privilegien von echter Bildung, freier Zeit, Zugang zu Kultur etc. bedachten Schichten sind aktuell einmal mehr eher ungünstig, um dieser gesellschaftlichen Faktizität etwas Emanzipatorisches in Richtung echter »Menschwerdung des Menschen« entgegenhalten zu können. Somit bliebe es bei einem moralischen Appell. Auf der anderen Seite der Barrikade stehen dagegen Denker im Range eines Nietzsche, Schopenhauer oder Heidegger auf festem akademischem Boden und nach wie vor hoch im Kurs. Wer dabei den Ton angibt, liegt auf der Hand. Max Weber gilt inzwischen gar als linker Gewährsmann. Eine fundierte »kritische« Bildung am Leitbild des klassischen Humanismus muss auch in heutigen Zeiten von den wenigen Interessierten unter widrigen Umständen gegen vielerlei Widerstände hart erkämpft werden und wird in Zeiten von Digitalisierung und einer zunehmenden Verschiebung der herrschenden Diskurse zudem nicht leichter.
Dr. Michael Rudlof
Veröffentlicht in der jungen Welt am 26.10.2020.
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