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Leserbrief zum Artikel Trübe Gedanken: Beruhigender Selbstbetrug vom 07.10.2020:

Verführerisch wie Schokolade

Esoterik, brauner Mystizimus, »Reichsbürger«-Slogans und sonstiges … Spricht hier wirklich »das Volk«? Man kann die Merkwürdigkeiten der Anticoronademonstrationen in Deutschland unendlich diskutieren. Ob man zu einer stimmigen Schlussfolgerung kommt, wozu das Ganze dient, ist fraglich, sofern man nicht die Variante »… von unten …« ins Auge fasst. Man will auf den »Willen des Volkes« aufmerksam machen, um gedankliche Nähe zu 1989/90 herzustellen. Die »Wiedervereinigung« sei von unten her getragen gewesen, ebenso das Niederreißen der Mauer. Und das war ja alles mit »Runden Tischen« vorberaten worden. Nun staunt man nicht schlecht, wenn wir auf der Seite »Bundesstaat Deutschland« ebenso »Runde Tische« sehen und erfahren, dass bereits ein Übergangsrat in Bildung begriffen ist, dass es eine Verfassungsgebende Versammlung seit April 2016 gegeben habe … etc. Der russische Duma-Abgeordnete Jewgeni Fjodorow weist zudem darauf hin, dass »sich alles sehr schnell ändern könne …« Was alles meint er denn? Welche Rolle spielen heute die »Grundrechtedemos«, welche Rolle spielen die willfährigen Linken, die sich als Apologeten der Großmacht Deutschland mit Hilfe Ken Jebsens ins Rampenlicht stellen, welche Rolle spielen Reichsbürger und nicht zuletzt esoterische Kreise?
Dazu graben wir ein bisschen tiefer.
Frank Deppe, Politikwissenschaftler, beschreibt in seiner Flugschrift »Imperialer Realismus?« die Entstehung einer Diskussion, die in den Eliten 2013 unter dem Thema »Neue Macht – neue Verantwortung« begonnen worden sei. Die Debatte um die außenpolitische Wende und die Führungsrolle Deutschlands sei bald ein zentrales Thema des öffentlichen Diskurses geworden. Wirkungsvoll flankiert werde die Debatte durch Publikationen, die anlässlich von »100 Jahre Erster Weltkrieg« erschienen. Der Kurswechsel zu mehr Macht, mehr Verantwortung wurde durch ein Projekt des Stiftung Wissenschaft und Politik und des German Marshall Funds gedanklich ausgearbeitet. Das Projekt war von einer Planungsgruppe des Auswärtigen Amtes gefördert worden. Das deutsche Außenministerium beteiligte sich mit dem Projekt »Review 2014« an der Kampagne für eine Neuorientierung deutscher Außenpolitik, das Papier »Neue Macht – neue Verantwortung« sollte damit an die Öffentlichkeit getragen werden. Ausgangspunkt für all dies war die Wende 1990. In einer Welt, die einen relativen Machtverlust der USA verzeichne, müsse Deutschland ein Machtvakuum ausfüllen, so das Papier.
Soweit die Standortbestimmung. Gehen wir kurz auf die propagandistische Flankierung ein, die diese Positionen erfuhren: Bücher erschienen so schnell, als wenn sie schon vorbestellt gewesen wären. Ihre Autoren waren u. a. Christopher Clark, Willy Wimmer/Wolfgang Effenberger, Herfried Münkler, Alexander von Bülow.
Der englische Historiker John C. G. Röhl griff die deutsche Diskussion auf und beleuchtete in einem Artikel in International Affairs 2015 einen Sachverhalt, der in der deutschen historischen Diskussion um 100 Jahre Erster Weltkrieg im Jahr 2014 eher selten Erwähnung fand. Es geht um die Fritz-Fischer-These, den neuen Revisionismus und die Bedeutung des Ersten Weltkriegs. Röhl fragt sich z. B., ob mit dem Buch von Clark »Die Schlafwandler« alles über Bord geworfen werde, was Fritz Fischer und seine Schüler dargelegt hatten. Röhl sieht eine neue Welle des Geschichtsrevisionismus aufkommen. Die Verneinung der Kriegsschuldfrage gehört dazu, das »Hineinschlittern« – und das kleine Serbien verantwortlich zu machen.
Geschichtsrevisionismus zum Zweck einer weitgehenden Reinwaschung Deutschlands ist wohl die Voraussetzung der neuen Machtpolitik. Im Jahr 2015 kamen Migranten in großer Zahl nach Deutschland. Von einem Teil der deutschen Bevölkerung wurden sie nicht willkommen geheißen, der Rechtsaußenpartei AFD verhalfen sie jedoch zu einem fulminanten Aufstieg. Und der Ruf, dass Merkel weg müsse, fand guten Widerhall.
Hypnotische Worte …
»Freiheit, Wahrheit, Friede« – wer würde das nicht wünschen? Verführerisch wie ein Stück feine Schokolade. Hier soll die »Mitte« der Bevölkerung angesprochen werden. Vergleicht man die Coronademonstration in Konstanz mit der in Berlin, fällt auf, dass das rechte Spektrum jedenfalls nicht sichtbar anwesend war. Die Küche war jedoch dieselbe: Michael Ballweg mit einem Büro in Stuttgart, welches über ausgezeichnete Vernetzungsinstrumente verfügt, Busse organisiert, mit ein paar »Spenden« auskommt und viele Menschen hypnotisiert und mobilisiert. Solange, bis die verführerischen Worte sich in nichts auflösen.
Es könnte sich beim »… von unten …« um Fake News handeln … Es könnte ein Täuschungsmanöver sein. Von unten wird eher akzeptiert als von oben dekretiert. Und wem nützte es schlussendlich? Es würde Anti-Merkel-Kräften in der CDU nützen, die CDU würde stärker im rechtskonservativen Lager, zu dem sich Abtrünnige aus der AfD gesellen. Und dann kann die deutsche Vormachtstellung noch effizienter vorangebracht werden. Besonders, weil der Geschichtsrevisionismus für diese Kreise eine unverzichtbare Zutat ist, wenn nicht eines ihrer »Hauptargumente«.
Mit den bundesweiten Demos soll der Eindruck des »Volkswillens« heraufbeschworen werden. Sollte sich Deutschland in einen »Bundesstaat Deutschland« wandeln, habe dies doch das Volk selbst so gewollt. Alles geschah doch nach dem »Willen des Volkes« – oder etwa nicht? Auch die »Wiedervereinigung« Deutschlands war, wie sich später herausstellte, ein geschickt orchestrierter und inszenierter Vorgang, den mehrere Geheimdienste und ihre politischen Träger mehrere Jahre vor 1989 beschlossen und eingeleitet hatten.

Aus der neuen »Verfassung« eines von Rechten projektierten »Bundesstaats Deutschland«

Paragraph 4. Die 26 Bundesstaaten sind im einzelnen:
Reichsland Elsaß-Lothringen, Königreich Bayern, Königreich Preußen, Großherzogtum Baden, Großherzogtum Hessen, Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin, Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz, Großherzogtum Oldenburg, Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, Herzogtum Anhalt, Herzogtum Braunschweig, Herzogtum Sachsen-Altenburg, Herzogtum Sachsen-Coburg-Gotha, Herzogtum Sachsen-Meiningen, Fürstentum Lippe, Fürstentum Reuß ältere Linie, Fürstentum Reuß jüngere Linie, Fürstentum Schaumburg-Lippe, Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt, Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen, Fürstentum Waldeck, Freie Stadt Bremen, Freie Stadt Hamburg, Freie Stadt Lübeck, Freie Stadt Danzig, Königreich Württemberg, Königreich Sachsen.
Dr. Barbara Hug, Schweiz
Veröffentlicht in der jungen Welt am 13.10.2020.
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