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Leserbrief zum Artikel Behindertenpolitik: Gramscis Buckel vom 02.09.2020:

Tief ergreifend

Der Artikel trägt dazu bei, diese Seite des Lebens Gramscis zu vertiefen. Ganz so unbekannt ist sie aber nun auch nicht. Zunächst eine Korrektur: Gramsci wurde erst 1926 auf dem illegalen Lyoner Parteitag der IKP zum Generalsekretär gewählt. Der Kongress nahm auch die »Thesen von Lyon« an, in denen Gramsci als erster kommunistischer Theoretiker eine Analyse des 1922 mit dem Marsch von Rom an die Macht gekommenen Faschismus unter Mussolini vornahm und die Grundfragen seiner antifaschistischen Bündniskonzeption darlegte.
Zur Ergänzung des jW-Beitrages sei auf Togliattis »Antonio Gramsci. Ein Leben für die italienische Arbeiterklasse« verwiesen, das bereits 1954 in Berlin/DDR erschien, gefolgt von Guido Zamis (Hg.) »Antonio Gramsci – zu Politik, Geschichte und Kultur« (Leipzig 1980) und »Gedanken zur Kultur« (1987). Sehr tiefgreifend hat sich zum Thema auch Giuseppe Fiori in »Das Leben des Antonio Gramsci«, Berlin 2013 geäußert, der detailliert darauf eingeht, mit welch geradezu übermenschlicher Willenskraft Gramsci arbeitete. »Die Wahrheit war, dass Antonio Gramsci schon zu dieser Zeit (1933) sich in einem Prozess des langsamen Sterbens befand«, schreibt Fiori. »Seine Zähne waren ausgefallen, und er hatte ein schmerzhaftes Magenleiden. Fortschreitende Lungentuberkulose, Arteriosklerose und Pottsche Krankheit (eine tuberkulöse Wirbelsäulenentzündung) verursachten unerträgliche Schmerzen.« Mit der jahrelang abgelehnten medizinischen Betreuung und der Weigerung, den Gefangenen in ein Gefängniskrankenhaus zu verlegen, betrieb das Mussolini-Regime systematisch die Ermordung Gramscis. »Ohne ärztliche Hilfe seinen Krankheiten ausgeliefert, starb er unter schrecklichen Qualen einen langsamen Tod.« Versuche, ihn zu einem Gnadengesuch zu bewegen, die nicht nur von Mussolini, sondern auch von seiner Familie und Freunden ausgingen, lehnte Gramsci ganz entschieden ab, da er darin eine Distanzierung vom antifaschistischen Widerstand und eine Auswirkung auf dessen Kampfkraft sah. Trotz dieses Krankheitszustandes arbeitete Gramsci weiter. Aus dem Jahr 1933 stammen die Gefängnishefte 1 (Notizen zu verschiedenen Themen), 2 (Grundlagen der Politik), 4 und 22 (Verschiedenes).
Entgegen gängigen Meinungen, Moskau habe nichts zur Rettung Gramscis getan, führt Fiore an, dass von der UdSSR durch den Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Maxim Litwinow über den italienischen Botschafter in Moskau ein Austausch Gramscis versucht wurde, was Mussolini »schroff abgelehnt« habe.
Fiori geht auch auf die problematische Ehe Gramscis mit seiner Frau Giulia Schucht ein, die er während seines Aufenthaltes als Delegierter der IKP bei der Komintern 1922/23 kennengelernt und mit der er zwei Söhne hatte. »Er war 31 Jahre alt und zum ersten Mal verliebt«, schreibt Fiori, der kein Urteil fällt. Aber was er darlegt, vermittelt den Eindruck, dass Giulia nicht dazu fand, Antonio in den letzten und schwersten Jahren seines Lebens im Kerker auch nur annähernd beizustehen und ihm ein Trost zu sein. Vergeblich wartete Gramsci auf einen Besuch von ihr im Gefängnis, ja oft erhielt er monatelang nicht einmal Post von ihr. Das erschwerte sein Schicksal zusätzlich. »Er hatte«, so Fiori, »seine Vergangenheit schonungslos analysiert und war zu der Überzeugung gekommen, dass er Giulia gegenüber ›schuldig‹ sei, was er mit seiner politischen Aktivität« in Zusammenhang brachte. Sie an sich gebunden zu haben, sah er als einen »Irrtum«. Er habe »nicht den Mut gefunden, allein zu leben, niemanden an sich zu binden, keine Zuneigung und kein enges Verhältnis usw. entstehen zu lassen«, gibt Fiori ihn wieder. Gramsci wollte das wiedergutmachen, »in die Einsamkeit zurückkehren und Giulia freigeben«. Menschlich tief ergreifend sind auch die einfühlsamen Briefe Gramscis an seine beiden Söhne Delio und Giuliano (Delio hat er nie gesehen), die er ihnen bis kurz vor seinem Tod schrieb (nachzulesen in: »Gedanken zur Kultur«, siehe oben).
Der Haltung Giulias stellte Fiore die entgegengesetzte ihrer Schwester Tanja gegenüber, die in Italien verblieb und Gramsci aufopferungsvoll zur Seite stand, ihn im Gefängnis besuchte, Literatur besorgte und alles tat, um sein schweres Los etwas zu erleichtern. Mit ihr besprach er auch die Probleme mit seiner Frau.
Doris Prato