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Leserbrief zum Artikel Anschlag von Hanau: »Seither kein einziger Rassist entwaffnet« vom 08.08.2020:

Einschneidende Erfahrung

Oft wird das schreckliche Blutbad in Hanau fälschlicherweise als Anschlag mit »nur« zehn Opfern betitelt. Als Mensch mit Migrationshintergrund, der selbst erfahren hat, wie eine weitaus folgenärmere und mildere, wenn auch trotzdem schreckliche Gewalttat die eigene Identität erschüttert und das eigene Wohlbefinden verletzt, möchte ich mich heute zu Wort melden und meine Erfahrungen auf eine Art und Weise schildern, die aufzeigt, wie schrecklich und terroristisch jede vermeintlich fremdenfeindliche oder rassistische Gewalt ist. Diese Geschichte erzähle ich, um zu verdeutlichen, wieso wir bis heute trauern und wieso die Folgen solcher Taten sich weit über die direkten Opfer erstreckt. Dabei möchte ich an diesem Tag, sechs Monate nach den grausamen Morden in Hanau, weniger meine eigene Geschichte erzählen, sondern den Fokus auf unsere aus dem Leben gerissene Brüder und Schwestern und deren Hinterbliebene legen.
Zuerst lohnt es sich der Frage nachzugehen, inwiefern dieses Blutbad als fremdenfeindlich zu bezeichnen ist. Nicht ohne Grund fragen sich manche: »Kann mir jemand helfen und erklären, um welche Minderheit es sich da genau handelt und was sie zu Fremden macht?« (Jungle World 2020/8) Welcher Minderheit gehörte Gökhan G. als in Hanau geborener Maurer an, wenn seine Familie bereits seit den 60ern in Deutschland lebt? Welcher Minderheit gehörte Fatih S., dessen größte eigene Migrationserfahrung der Umzug von Regensburg nach Hanau war, an? Die Antwort ist bei beiden (und fast allen anderen Opfern dieser rechtsradikalen Tat) die gleiche und doch in den Augen des Täters eine andere. Bis auf zwei Roma waren die Opfer des rechten Terroristen keiner Minderheit zugehörig, und doch war das in seiner Wahrnehmung anders.
Diese Ambivalenz, dass gut integrierte Mitbürger durch fatale rechte Ideologie zu vermeintlich kriminellen und gewalttätigen Ausländern werden, wird deutlich, wenn man den ideologischen Background des Täters betrachtet. Keinesfalls darf die Tat psychiatrisiert werden. Dass diese auch von der AfD herangezogene Betrachtungsweise an der Realität scheitert, macht auch das Bekennerschreiben deutlich. Zwar beansprucht der Täter in seinem Legitimationswerk, dieses unabhängig verfasst zu haben, doch orientiert er sich stark an anderen rechten Autoren wie Björn Höcke und Thilo Sarrazin und der »Identitären Bewegung«.
Doch was sind die Folgen einer solchen Tat? Dazu muss ich selbst was von mir erzählen. Meine Eltern und auch ich haben einen russlanddeutschen Migrationshintergrund, was zur Folge hat, dass wir – ähnlich wie bei vielen Gastarbeitern – sowohl in Deutschland nicht richtig deutsch sind noch im »alten Land« als richtig zugehörig wahrgenommen werden. Unsere ethnische Identität ist ein Grauton. Lang war mir dieser verkörperte ethnische Gegensatz egal. Ich bin in Deutschland geboren, und selbst meine Eltern konnten sich schnell ein gutes Leben hier aufbauen. Dieses als selbstverständlich wahrgenommene Zugehörigkeitsgefühl zerbrach, als meine Oma durch ihre Nachbarin als »Scheißrussin« bezeichnet wurde und mit 80 Jahren einen Schlag ins Gesicht bekam.
Gewalt gegen das als »fremd« Wahrgenommene verursacht immer genau das, nämlich das Gefühl, hier irgendwie doch nicht dazuzugehören. Wie ist eine Gewalttat gegen einen Menschen, dessen Herkunft ähnlich zu beschreiben ist wie die eigene, anders zu bewerten? Was als normal wahrgenommen wurde, ist es plötzlich doch nicht. Für mich war das ein prägendes Ereignis. Für die weiteren 20 Millionen Deutschen mit Migrationshintergrund ist die Situation infolge solcher Gewalttaten eine ähnliche. Gerade bei grausamen Blutbädern wie in Hanau ist die Verunsicherung der eigenen Zugehörigkeit besonders einschneidend, ja fast eine Zäsur.
Christian Gerlin
Veröffentlicht in der jungen Welt am 18.08.2020.