Leserbrief zum Artikel Geschichtspolitik: Tötet Bismarck!
vom 24.06.2020:
Vulgäre Tirade
»Wir hätten da eine Idee«, schlägt Peter Köhler im Plural vor, um mit einer vulgären Tirade gegen die wahrlich nicht unumstrittene Figur Bismarck loszupöbeln. Seine Wortwahl erlaubt hier kein anderes Verb. Beinahe alle Übel der Gegenwart sind – so Köhler - auf Bismarck zurückzuführen. Der feinfühlige französische Kaiser Napoleon III. – von Zeitgenossen als aufgeblasener Möchtegernaristokrat mit blutigen Kriegen (Krimkrieg, Mexiko) wahrgenommen – und die ebenso feinfühlige französische Nation, deren erster Kaiser nur zwei Generationen früher ganz Europa kriegerisch »umgepflügt« hat, konnten die »Demütigung« durch Bismarcks Redaktion der Emser Forderungen an Preußen nur durch eine Kriegserklärung an Preußen »tilgen«. Klar, dass Bismarck daran schuld ist. Die fünf Milliarden Reparationen des Verlierers Frankreich waren so maßlos hoch, dass sie vorzeitig getilgt werden konnten. Das »rächte sich in Versailles«, denn die Tilgung der dort Deutschland auferlegten Reparationen sollte sich bis Ende des 20. Jahrhunderts erstrecken. Schließlich hat der »abgefeimte Herrenmensch« und Neukolonialherr die Schwarzen dem »Zwangsregime und der Terrorherrschaft« ausgeliefert. Da mussten die etablierten Kolonialstaaten mit ihrer jahrhundertelangen Erfahrung als Wohltäter sich mächtig umstellen. Der »den Reichstag hassende Schuft« hat – dumm war er offenbar auch – den Reichstag so eingerichtet, dass der das Budgetrecht erhielt und aus allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen hervorging. Eine Rarität damals. Dass ihm wie allen Regierenden die kritische Presse – die gab es zur Zeit Bismarcks noch – »zuwider war«, erstaunt nicht und ist als Phänomen der jungen Welt wohl nicht unbekannt. Aus welchen Motiven heraus Bismarck die Sozialgesetzgebung einführte, sei dahingestellt. Dass sie für ihre Zeit zu einem großen Fortschritt und Vorbild für andere Länder wurde, kann man dem »Betrüger« nicht absprechen. Schließlich zur »Blaupause … für den späteren Nachfolger A. Hitler«: der Unterdrückung der Sozialdemokraten. Sie führte dazu, dass die SPD stärkste Partei im Reichstag wurde. Da hat Hitler Bismarcks Blaupause wohl missverstanden. Der Respekt und die Anerkennung, die Bismarck auch heute noch entgegengebracht werden, sind wohl am ehesten auf seine Rolle bei der Einigung Kleindeutschlands zurückzuführen, die späte Verwirklichung eines wenn auch mit Mängeln behafteten Nationalstaats anstelle der biedermeierlichen Kleinstaaterei. (...)
Veröffentlicht in der jungen Welt am 26.06.2020.