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Leserbrief zum Artikel Hintergrund: Staat stützt Konzerne vom 02.05.2020:

Wahnsinn mit Methode

Seltsame Blüten treibt das Coronavirus: Da schreibt ein Funktionär der AfD zur politischen CV-Linie seiner Partei: »Gestorben wird immer.« Wahrlich, eine erfreuliche Nachricht in düsterer Zeit. Könnte der Titel einer »Tatort«-Staffel werden oder die Werbung für den Kauf von Aktien einer Pietätskette. Gedanken hat sich auch unser Bundestagspräsident Schäuble gemacht, als er sinngemäß äußerte, das Leben sei nicht der höchsten Güter eines. Hätte die Rede eines Truppenkommandeurs der Wehrmacht geziert. Weniger makaber, dafür um so ungenierter allerdings sind die Rufe von börsennotierten Aktiengesellschaften und Konzernen nach Milliardenhilfen (bisher zu verteilen aus der Druckerpresse: ca. 1,5 Billionen Euro). Weniger eine Blüte, eher eine Mistel, die ihren Wirt, das Bruttoinlandsprodukt, auszehrt. Die lauten Rufe der Autoindustrie nach Kaufpreiszuschüssen bei Neuerwerbungen meist untergehender Umweltsünder, der Lufthansa nach Geldgeschenken, die das Zweieinhalbfache ihres Börsenwertes ausmachen, ohne Umweltauflagen und Abrüstung der Flotte. Zudem Politiker wie AKK, die im Kniefall vor den US-getriebenen NATO-Forderungen Höchststeigerungen bei Rüstungsausgaben veranschlagen mit den entsprechenden Großaufträgen für die Waffenfabriken. Verzicht leisten wollen sie alle schon gar nicht auf Managerboni und Dividendenzahlungen an Aktionäre, ohne die öffentliche Hand an dem Geschäftsmodell zu beteiligen. Also ohne Mitspracherechte bei Entscheidungen über den Einsatz dieser Mittel, ob also sozialverträglich, ökologisch, nachhaltig, friedenspolitisch ausgegeben. Nicht Missstände, sondern selbstzerstörerische Anschläge auf Demokratie, Solidarität, Umwelt und die Zukunft unserer Gesellschaft. Die Pandemie bringt an den Tag, was seit Jahrzehnten praktiziert wird: Angeblich notleidende Konzerne wie Lufthansa, BMW, Tui, Adidas, die lange Zeit Milliardengewinne gemacht haben, ihre Steuern minderten durch Flucht in Steueroasen oder durch Billigkredite an im Ausland tätige Filialen, durch Zukäufe in aller Welt, die dort oft auf Aussetzung von Arbeitsrechten setzen, auf Ausbeutung und Kinderarbeit, sollen nun notleidend sein und beim Staat um Hilfen bitten (geschätzte eine Billion, Totschlagargument: Arbeitsplätze retten)? Und das praktisch ohne Gegenleistung und ohne dass v. a. im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge (z. B. private Krankenhäuser) Staatsbeteiligung an unternehmerischen Entscheidungen eingeräumt wird.
Ein gutes Beispiel ist Adidas. Der Konzern, bekannt nicht nur für Sportbekleidung, sondern besonders auch für Ausbeutung und Kinderarbeit an v. a. südostasiatischen Produktionsstätten, wollte im Schatten von »Corona« seine Mieten aussetzen und erhält nun etwa drei Milliarden EU als Übergangshilfe. Eine Summe, mit der man die wichtigsten sozialen und ökologischen Projekte anschieben könnte wie eine Gundrente und den Ausbau erneuerbarer Energie. Welch ein Wahnsinn, aber er hat Methode.
Jörg Sternberg, Hanau
Veröffentlicht in der jungen Welt am 07.05.2020.