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Leserbriefe

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Leserbrief zum Artikel 75 Jahre Befreiung vom Faschismus: Verzicht auf Festakte vom 17.04.2020:

Sieg der Menschlichkeit

Je weiter dieser Tag der Befreiung vom deutschen Faschismus sich von uns entfernt, um so näher rückt er in seiner Bedeutung und Wahrnehmung. Kaum ein Datum hat mein Leben so geprägt. Trotz der unmenschlichen Verbrechen, die Wehrmacht, SS und ihre Hilfstruppen in der Sowjetunion von 1941 bis 1945 verübten, begegnete mir von Anfang meiner bewussten, emotionalen Wahrnehmung Menschlichkeit. Meine Lehrerin las uns in der 5. Klasse aus dem Buch »Soja und Schura« vor, das die Mutter der beiden geschrieben hatte. Tochter Soja Kosmodemjanskaja wurde als Partisanin von den Deutschen in triumphaler, zynischer Weise öffentlich gehängt, und ihr Sohn Schur fiel im Kampf. Ohne Hass, als liebende Mutter schrieb sie über das tragische Schicksal ihrer beiden Kinder, mit Trauer und Stolz. Diesem Humanismus seitens der Sieger, bis hin zur Vergebung, sollte ich in meinem Leben noch sehr häufig begegnen. War der Sieg über den Faschismus, der mit ungeheuerlichen Opfern und Leiden der Sowjetvölker und auch der Alliierten errungen war, an sich schon eine historische Tat, so war die Behandlung des deutschen Volkes im Osten durch die Sowjetunion historisch einmalig. Daran können auch westliche Geschichtsschreibung und russophobe Propaganda damals und heute nichts ändern, selbst wenn man Racheakte einzelner sowjetischer Soldaten zum Wesen des Umgangs mit der deutschen Bevölkerung durch die Sowjetarmee macht.
Ich verfüge über Dokumente meiner Eltern, die als Kleinbauern in Polen lebten und nach dem »Endsieg Hitlerdeutschlands« in russische oder ukrainische Gebiete umgesiedelt werden sollten. Dort sollten sie Land und Hof erhalten und die dortige Bevölkerung sollte dezimiert werden. Diesem Schicksal konnten sie Dank des Vorrückens der Roten Armee entgehen, auch wenn sie ihre Heimat verlassen mussten. Das stellte letztlich auch eine Art Befreiung dar, wenngleich sie das damals bestimmt nicht so sehen konnten.
Ich war sowjetischen Menschen immer dankbar, denn ich konnte in Frieden leben und hatte stets eine überschaubare Zukunft vor mir, persönlich, familiär, gesellschaftlich. In meinem Leben waren russische und ukrainische Freunde immer präsent, sie gehörten zu meinem Leben bis heute.
Da ich die russische Sprache beherrsche, konnte ich die anderthalb Jahre eines Aufenthalts in der UdSSR nutzen, um mich mit dem Bürger auf der Straße, in der Schlange vor einem Laden, auch Wodkaläden, oder mit Wissenschaftlern und Lehrern an der Universität oder Akademie in Moskau über die Probleme des Landes, auch der DDR, unterhalten. Wenngleich mich spielende Kinder als »Fritz« bezeichneten, schlug mir nirgends Ablehnung oder Hass entgegen, eher Neugier und Interesse.
Hasserfüllt wurde mir neulich in einer Diskussion mit jungen Mitgliedern der Partei Die Linke begegnet, weil ich mir erlaubte, die Befreiungstat der Sowjetarmee zu würdigen und dabei in gleicher Weise Holocaust und die Verbrechen an Millionen Sowjetbürgern verurteilte.
Der Vater meines Freundes Sascha in Moskau, Oberst der Artillerie, erlebte und überlebte den gesamten Krieg, der ihn bis Schwerin führte. Am 9. Mai, dem Tag des Sieges 1981 und 1988, lud er mich zu sich nach Hause ein, er hatte außerdem an diesem Tag seinen Geburtstag. Wir feierten gemeinsam und begaben uns zur Würdigung der Opfer an das Grabmal des unbekannten Soldaten im Alexandergarten am Kreml. Das russische Volk hat alles Recht, den 75. Jahrestag des Sieges würde- und kraftvoll zu begehen, als Erinnerung, Mahnung und Warnung vor westlicher Bedrohung. Ich war der erste Deutsche, den Oberst Michailin zu sich einlud und als Freund empfangen hatte. Er verstand, dass in der DDR eine Generation herangewachsen war, die an einem friedlichen, freundschaftlichen Verhältnis mit den sowjetischen Menschen gelegen war, wofür auch er mit seinem Kämpfen und Leiden die Voraussetzung geschaffen hatte. Unsere Freundschaft währte auch über seinen Tod hinaus. Noch in diesem Jahr werde ich mit meinem Sohn seine Angehörigen in Moskau besuchen.
Hetze gegen Russland und Sanktionen des Westens sind ein verhängnisvoller Weg und werden dem 8./9. Mai 1945 in keiner Weise gerecht. Niemand kann uns von der Verantwortung entbinden, über die ursächlichen Wurzeln von Krieg und Faschismus aufzuklären und anzukämpfen, die auch heute dem Imperialismus immanent sind.
Edmund Peltzer
Veröffentlicht in der jungen Welt am 06.05.2020.