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Leserbrief zum Artikel Wandel ist gestaltbar: Kollege Roboter? vom 22.11.2019:

Digitalisierung nutzen

Die Digitalisierung und die mit ihr verbundene durchgehende lückenlose Vollautomatisierung werden kommen und damit Industriearbeit überflüssig machen. Die Hürden für die Implementierung, welche in der Vergangenheit mitunter vor einer Digitalisierung und Vollautomatisierung der Produktion noch abschreckten, werden zunehmend niedriger. Zum einen werden Vollautomatisierungslösungen stetig billiger, wo ein Roboter, der vor zehn Jahren noch 100.000 Euro gekostet hat, heute bereits für 10.000 Euro zu haben ist und, bezogen auf die Funktionalität, die Preise für Vollautomatisierungslösungen tendenziell weiter stetig sinken. Zum anderen machen es neue Betriebssysteme für Vollautomatisierungslösungen auch denjenigen Mitarbeitern, die nicht im Fach Informatik promoviert haben, zunehmend einfacher, diese für die jeweilige Produktion einzurichten. So können mit Roboterarmen, die bei der Einrichtung des Produktionsprozesses wie ein Joystick als Eingabegerät bedient werden können, wichtige Punkte angefahren werden, wonach dann eine Software für die vollautomatische Produktion den optimalen und schnellstmöglichen Bewegungsablauf berechnet und geeignete Sensorik am Roboter diesen beispielsweise die Entnahme von Teilen und deren Plazierung mit optimalen Kräften unterstützt. Es werden für die Weiterentwicklung der Software und die Implementierung auch in Zukunft noch Menschen gebraucht, aber mit der stetigen Weiterentwicklung der Soft- und Hardware werden es auch hier tendenziell weniger, weil die Implementierung in der Produktion zunehmend einfacher und deutlich schneller vonstatten gehen wird.
Daher ist die Schätzung der OECD, das Vollautomatisierungslösungen einschließlich Roboter in Zukunft 60 Prozent der Arbeitsplätze ersetzen werden, sehr realistisch. Es werden tatsächlich noch mehr Arbeitsplätze sein, wenn man den technischen Fortschritt mit berücksichtigt, wo ein Erzeugnis aus deutlich weniger Teilen zusammengesetzt werden kann, hier sei nur an hochintegrierte Schaltkreise erinnert, mit denen die gleiche Funktionalität heute viel kleiner als jemals zuvor realisiert werden kann, sowie an den Übergang vom Verbrennungsmotor zum Elektromotor, wobei für die Produktion des Elektromotors sowie der Batteriezellen deutlich weniger Teile als für die Produktion eines Verbrennungsmotors erforderlich sind, was eine deutliche Vereinfachung der Produktion auch mit weniger Produktionsmaschinen ermöglicht. Dies wird mit einer zwangsläufigen deutlichen Verkleinerung des Arbeitsvolumens verbunden sein, in deren Folge zukünftig nur noch eine Minderheit der erwerbsfähigen Menschen in Industriearbeit erwerbstätig sein wird. Diese Entwicklung läuft bereits heute, wo zunächst die Zeitarbeiter an die Zeitarbeitsfirmen zurückgegeben werden, ehe später auch Teile der Stammbelegschaft vom Arbeitsplatzabbau direkt betroffen sein werden.
Daher muss nachgedacht werden, wie auch den Menschen ,die nicht mehr gebraucht werden, auch ohne Erwerbsarbeit ein Leben in Menschenwürde und eine Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht werden kann, denn neue Arbeitsplätze werden keinesfalls im Verhältnis 1:1 die durch Digitalisierung und Vollautomatisierung wegfallenden Arbeitsplätze ersetzen. Das Verhältnis dürfte eher bei 1:100 liegen. Und welche sinnvollen Arbeitsplätze sollen in einer voll digitalisierten und voll automatisierten Welt, in der selbst Schiffe, Züge, Lkw und Pkw »autonom« unterwegs sind, entstehen? (…)
Es muss die Schiene, wonach jeder Mensch eine Erwerbsarbeit haben soll und von dem daraus erzielten Lohn der Lebensunterhalt finanziert wird, verlassen werden und dabei das Einkommen von der Erwerbsarbeit entkoppelt werden, was beispielsweise über ein bedingungsloses Grundeinkommen oder auch über eine Negativsteuer, wobei auch den Menschen ohne Erwerbsarbeit ein Einkommen in einer menschenwürdigen Höhe, also deutlich mehr als der heutige Hartz-IV-Regelsatz, liegt, garantiert und damit ihnen eine Teilhabe an unserer auf Arbeitsteilung und Fremdversorgung basierenden Gesellschaft ermöglicht wird. (…)
Ich finde die Digitalisierung und die durchgehende Vollautomatisierung sehr gut, weil alles, was mit Maschinen gemacht werden kann, auch tatsächlich mit Maschinen gemacht werden sollte, und sehe die Digitalisierung nicht als ein Feld für Klassenkämpfe. Leider haben bis jetzt weder die Gewerkschaften noch eine im Bundestag vertretene Partei eine Antwort auf die Digitalisierung und Vollautomatisierung und auch kein schlüssiges Konzept für ein bedingungsloses Grundeinkommen oder eine Negativsteuer. Die Gewerkschaften sollten an erster Stelle zu den Protesten gegen den Arbeitsplatzabbau wie gegenwärtig durch den Übergang vom Verbrennungs- zum Elektromotor in der Automobilindustrie besser zu großen Demonstrationen mit der Hauptforderung nach der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens bzw. einer Negativsteuer aufrufen, weil sie den durch den technischen Fortschritt zwangsläufigen Abbau von Arbeitsplätzen nicht verhindern können. Oder sollen die freigesetzten Menschen nur um den Willen der Beibehaltung der Vollbeschäftigung mit sinnloser Arbeit, die nicht unbedingt gebraucht wird, als eine eine Art Beschäftigungstherapie beschäftigt bleiben?
Die Digitalisierung und die durchgehende Vollautomatisierung werden so oder so zu großen gesellschaftlichen Umbrüchen führen. Wir haben es in der Hand, ob die freigesetzten Menschen nur noch ein Almosen in Form von Hartz IV bekommen sollen oder ein selbstbestimmtes Leben in Menschenwürde führen können.
Ulrich Neef, Plauen
Veröffentlicht in der jungen Welt am 05.12.2019.
Weitere Leserbriefe zu diesem Artikel:
  • Frage der Verteilung

    Zitat: »Doch welche Relevanz hat die vielbeschworene ›technische Revolution‹ wirklich?« Rechnen wir mal so: Wenn ich zaubern und alle Wünsche der Menschheit erfüllen könnte, worauf käme es an, wollte ...
    Istvan Hidy