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Leserbrief zum Artikel Literaturnobelpreis: Eine hartleibige Geschichte vom 17.10.2019:

Auf offener Bühne applaudieren die Befriedigten oder wie man vom Opfer zum Täter wird

Ich habe soeben im Deutschlandfunk einen Bericht über den diesjährigen Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Sasa Stanisic, und seine Auslassungen über die angeblichen Lügen seitens Peter Handkes bezüglich der kriegerischen Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien gehört. Mein erster Gedanke war, handelt es sich hierbei um heilige Einfalt oder doch um ein ausgeklügeltes Geschäftsmodell? Oder vielleicht doch beides?
Vor fünfzig Jahren bin ich aus privaten Gründen in die Bundesrepublik Deutschland gekommen.
Ohne Sprachkenntnisse und ohne materielle Unterstützung habe ich mich durch das Leben geschlagen, das Studium beendet und eine Beschäftigung gefunden. Es waren zwar harte, aber zugleich die prägendsten Zeiten.
Ab dem Jahr 1988 war ich zwanzig Jahre lang im Migrationsdienst eines Wohlfahrtverbandes tätig.
Durch diese Arbeit habe ich das ganze Elend der Kriegsfolgen bei der Zerstörung Jugoslawiens direkt und indirekt mitbekommen. Die Menschen, die sich an uns gewandt haben, kamen vorwiegend, aber nicht nur, aus Bosnien und Herzegowina und Kosovo.
Und aus diesem Grunde glaube ich, den Leidensweg der Familie Stanisic auf ihrer Flucht vor dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien einigermaßen nachvollziehen zu können.
Parallel zu dieser Tätigkeit hielt ich regelmäßig Seminare und Vorträge zum Thema Südosteuropa …
In diesem Kontext kann ich mich noch an ein Seminar in Hamburg erinnern, welches ich kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges in Jugoslawien geleitet habe. Dort wurde ich mehr oder weniger ausgelacht, als ich vor der weiteren Destabilisierung Jugoslawiens und dem Krieg warnte. Nicht die Völker, sondern die Menschen vor Ort werden in so einem Falle bis zu den Knien im Blut stehen, waren meine Worte.(…)
Ich vermute, Sasa Stanisic hat Traumata erlebt, die er wohl zeitlebens nicht mehr vergessen wird.
Und dennoch ist Sasa Stanisic, ein Homme de lettres, meines Erachtens mitnichten berechtigt, so unreflektiert über Peter Handke zu urteilen.
Oder war der Angriff auf Peter Handke in Frankfurt eine Mainstream-Gefälligkeit dem erlesenen Publikum gegenüber oder bloß eine emotionale Denkblockade?
Vor diesem Hintergrund und zufolge meiner historischen und theoretischen Kenntnis kann ich behaupten, dass Sasa Stanisic Peter Handke und seine Intention überhaupt nicht verstanden hat.
Denn Peter Handke stand und steht nach wie vor für Jugoslawien, für jenes Modell eines Staates, der trotz aller seiner Unzulänglichkeiten ein Paradigma für ihn darstellte, und nicht für seine Zerstörung und erst recht nicht den Krieg. In diesem Kontext ist auch das Engagement Handkes für Serbien zu verstehen: Für die »Wirbelsäule« Jugoslawiens, die unbedingt gebrochen werden muss.
Auf der anderen Seite wussten diejenigen, die die Balkanisierung des Balkans wiederherstellen wollten, dass dies nur über die Niederringung Serbiens erfolgreich sein kann. Um das zu erreichen, hat man keine Mühe gescheut, von der schäbigen Propaganda bis zum offenen ökonomischen und militärischen Terror … Man hat eine Wirklichkeit konstruiert, diese gedeutet und dann entsprechend behandelt. Was blieb, ist die kontrollierte Instabilität der ganzen Region …
Es steht außer Frage, dass dort schreckliche Verbrechen begangen worden sind. In einem Bürgerkrieg geschieht Unvorstellbares, es ist allerdings eine Frage der momentanen Stärke und der Situation, ob man als Täter oder als Opfer auftritt. Die Rollen wechseln unter Umständen ständig.
Und in diesem Zusammenhang begeht Sasa Stanisic meiner Meinung nach einen schwerwiegenden Denkfehler, er kann offensichtlich zwischen den Ursachen und den Folgen eines Bürgerkrieges nicht unterscheiden ja, an dieser Stelle wird Stanisic offenbar vom Opfer zum Täter.
Denn er versteht offenkundig nicht, dass der Krieg, zumal der Bürgerkrieg – vom Westen vorangetrieben, gerade von der damaligen Bundesregierung –, das größte Verbrechen ist. Und diejenigen, die diesen Krieg geplant, unterstützt und befeuert haben, sind die eigentlichen Dämonen der Gegenwart, gegen die sich Peter Handke fortwährend auflehnt.
Und schließlich frage ich mich, ob und in welcher Beziehung stehen die Gelächter von Hamburg und der Applaus für Sasa Stanisic von Frankfurt?
Zeljko Taras
Veröffentlicht in der jungen Welt am 24.10.2019.
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