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Leserbrief zum Artikel Postdemokratische Einstellungen: »Die Ergebnisse sollten ein Weckruf sein« vom 05.10.2019:

Elementare Interessengegensätze

Die bürgerliche Gesellschaftstheorie steht auf dem Kopf: Die Herrschaft des Kapitals nennt man »Demokratie« und die sozial orientierten Staaten »Diktaturen«.
– Kaum ein Begriff in der vom Kapitalismus beherrschten Welt vermag soviel Hoffnungen und Erwartungen, aber auch Irritationen und Falschvorstellungen erwecken wie der Ruf nach »Demokratie«. Nach dem Willen bürgerlicher Interpreten soll die »Demokratie« dem kapitalistischen System einen sozial wirkenden Anschein geben und das Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat festigen. Wie sich in der Praxis zeigt, verleitet man die Bürger aber dazu, wie beim Glauben in den Religionen, sich nicht an Realitäten zu orientieren, sondern sich eher an Prophezeiungen und Versprechungen zu klammern. Wer im Lande tatsächlich herrscht und wodurch in jedem kapitalistischen Staat elementare Interessengegensätze und die eigentlichen Probleme entstehen, wird verschwiegen oder verschleiert. Entsprechend einseitig wird dann auch im deutschen „»Duden« geurteilt. Dort heißt es: Demokratie ist die »Staatsform, in der die vom Volk gewählten Vertreter die Herrschaft ausüben.« Eine solche simple Verabsolutierung verschweigt weit mehr gesellschaftliche Zusammenhänge, als sie aussagt. So enthält sie nichts darüber, wer über wen und vor allem wer auf welcher Grundlage tatsächlich herrscht. Solchen Begriffen wie Demokratie, Freiheit oder Gerechtigkeit entnimmt man ihren eigentlich zu klärenden Inhalt und bietet sie zur Täuschung des gutgläubigen Volkes als wohlklingende Phrase an. Dabei tut man so, als würde sich die »Demokratie« im Lande allein mit einer solchen »Wahl« von Vertretern verschiedener Parteien voll erfüllen. Es liegt doch auf der Hand, dass die autark funktionierende Wirtschaft der eigentliche ökonomische Machtfaktor im Staate ist und dass letztlich mit ihr und durch sie im Lande das Geld regiert. Zu der Produktions- und Handelssphäre der Wirtschaft haben weder der Staat noch irgendwelche anderen Einrichtungen entscheidenden Zugriff. Vor den Werktoren der Wirtschaft und nachgeordneten Einrichtungen macht die heiliggesprochene »Demokratie« Halt. Die Motivationen und Anreize der privaten Wirtschaft sind primär keinesfalls auf die Befriedigung der Bedürfnisse des Volkes gerichtet, sondern vor allem auf eine Profitmaximierung und einen optimalen persönlichen Gewinn.
Im Gegensatz dazu ist das Grundinteresse der großen Mehrheit der Gesellschaft auf das Gemeinwohl, die soziale und Existenzsicherheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gerichtet. Dass sich in diesem gegensätzlichen Verhältnis immer größere Widersprüche offenbaren, die man bemüht ist zu verschleiern, wird immer deutlicher. Im Gegensatz zu horrenden Gewinnen der Herrschenden zeigen sich in der Mehrheit der Bevölkerung solche Probleme wie das Abdriften immer größerer Teile der Gesellschaft in die Armut, die weitverbreitete Existenzunsicherheit, die sich stets weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich und die kulturelle und geistige Entfremdung der eigenen Bevölkerung. Wenn richtig ist, was gelegentlich doch einmal an die Öffentlichkeit dringt, dass inzwischen zehn Prozent der Bevölkerung über 90 Prozent des gesamten Volksvermögens verfügen, während sich 90 Prozent der Bevölkerung die restlichen zehn Prozent des Volksvermögens zu teilen haben, nur um sich zu versorgen, ist das ein ernstes Warnsignal. Es weist auf eine totale gesellschaftliche Schieflage hin und stellt eine sehr bedenkliche Zukunft in Aussicht. Und wenn die Bürger in der ehemaligen DDR noch nach 30 Jahren in einem »einheitlichen« Staat bei gleichen Leistungen und Preisen nahezu 20 Prozent weniger verdienen, gleicht ihre Zukunftsaussicht eher einer Katastrophe als den versprochenen »blühenden Landschaften«. Wenn man dann die zu erwartenden Renten in Betracht zieht, die bezüglich der erreichten Entgeltpunkte aber an den Bedingungen und Verdiensten in den alten Bundesländern gemessen werden, erreicht die große Mehrheit der ehemaligen DDR-Bürger bei weitem nicht einmal den westdeutschen Durchschnittsverdienst. Sie sind daher auch in der Zukunft bezüglich der Rente selbst wieder einmal »zweite Wahl«. Das sind die zwei diametralen Widersprüche einer gespaltenen Gesellschaft, in der sich der Grundgegensatz unserer Zeit widerspiegelt: gesellschaftliche Produktion – durch die Werktätigen – und privatkapitalistische Aneignung – durch die Eigentümer der Produktionsmittel.
– Dieser elementare Interessengegensatz macht deutlich, dass seine Überwindung nur durch die Überwindung des kapitalistischen Systems selbst möglich wäre. Statt dessen wird aber eine »Demokratie« in einem sogenannte Mehrparteiensystem angeboten. Wie haltlos sie ist, zeigen folgende Fakten:
1. Offenbar soll mit dem Mehrparteiensystem die breite Schichtung der Interessen des Volkes berücksichtigt werden, obgleich es auch durch Berufs- und Interessengruppen oder Organisationen und Vereine möglich wäre. Zugleich soll vor allem aber die Illusion geweckt werden, als könne eine der Parteien immer günstigere Lebensbedingungen als die andere schaffen und bestehende Widersprüche und Probleme des Landes eher überwinden. In Wirklichkeit treten alle Parteien für das gleiche kapitalistische Gesellschaftssystem ein, ohne es ändern zu wollen. Ihre Absichten und Ziele unterscheiden sich nur in Nuancen. Sie sind alle systemkonform und tragen staatstragenden Charakter. Wenn in ihren Parteiprogrammen noch sozialistische Gedanken enthalten sein sollten, sind sie spätestens mit ihrer Absicht, sich zur Wahl zu stellen, in »Vergessenheit« geraten oder zurückgestellt.
2. Diese einheitliche Grundorientierung der Parteien wird allein schon durch das Grundgesetz bestimmt, dem alle Parteien unterworfen und verpflichtet sind. Sie sind daher weder gewillt noch gerechtfertigt, gegen das kapitalistische System aufzutreten, und wären gar nicht zur Wahl zugelassen und gegebenenfalls schon im Vorfeld verboten worden. Im Grundgesetz wird vorgegeben und erklärt, dass die Bundesrepublik »ein demokratischer und sozialer Bundesstaat« (Art. 20 GG) sei. Weiter heißt es dann, dass »alle Deutschen (besonders natürlich der Staat selbst) das Recht zum Widerstand« haben »gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen«. (Art. 20 Abs. 3 GG) Damit hat schon das Grundgesetz eine eindeutige Orientierung für den Charakter der Parteien geliefert. Es wird aber auch ausdrücklich betont, dass mit Ausnahme einer bloßen Meinungsäußerung jedes aktive Tätigwerden zum Sturz des kapitalistischen Systems bereits einen Straftatbestand begründet und strafrechtlich verfolgt werden kann.
Das macht deutlich, was von einem »Mehrparteiensystem« zu halten ist, wenn alle Parteien den gleichen Bedingungen unterliegen, das gleiche System vertreten und insofern ihrem Wesen nach gleich sind. Was man auch wählt, es kommt immer das gleiche System heraus. Unter diesen Bedingungen wird auch jedes Gerede von der sogenannten freien Wahl zur Farce und zeigt, dass es absolut nur dem Zweck dient, den eigentlichen Charakter des kapitalistischen Systems zu verschleiern.
3. Im Gegensatz zu dieser in den kapitalistischen Staaten hochgelobten Gesellschaftskonzeption hat sich für die VR China erübrigt, ein sogenanntes Mehrparteiensystem zu praktizieren. Das allein aus dem Grunde, weil für sie die Notwendigkeit, Klassen- und Interessengegensätze zu verschleiern, einfach gegenstandslos ist. Sie konnte daher ihre gradlinige Konzeption – ein Volk, eine Partei und ein Staat – zum Grundsatz ihrer Politik machen.
Es ist unbestritten in der Welt, dass sich die VR China in kürzester Zeit den Unkenrufen der bürgerlichen Welt zum Trotz von einem wirtschaftlich zurückgebliebenen Land zu einer der leistungsstärksten Großmächte der Welt entwickelt hat. Das war nur möglich, da es für diese Entwicklung keine grundsätzlichen Interessengegensätze zwischen der breiten Mehrheit der Bevölkerung, der Partei und dem Staat gibt und in diesem Sinne auch ein entsprechender Einfluss auf die Wirtschaft ausgeübt wird. Ein solches Verhältnis und eine solche Leistungsentwicklung sind einzigartig in der Welt und stimmen hoffnungsvoll. Sie sind daher gut beraten, darauf zu verzichten, in ein in kapitalistischen Staaten hochgepriesenes »demokratisches Mehrparteiensystem« zurückzufallen.
– Mit aller Nachdrücklichkeit sollte unseren Bürgern bewusstgemacht werden, dass alle Probleme und Widersprüche und die sich daraus ergebenden finsteren Zukunftsvisionen auf das bestehende kapitalistische System zurückzuführen sind. Im Rahmen gesellschaftspolitischer Erörterungen sollte daher nichts wichtiger sein, als die in der bürgerlichen Welt üblichen gesellschaftlichen Begriffe wie Demokratie, Freiheit, oder Gerechtigkeit zu entschleiern und die damit verbundenen Hintergründe offenzulegen.
Dr. sc. jur. Heinz Günther
Veröffentlicht in der jungen Welt am 21.10.2019.
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