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Leserbrief zum Artikel Jürgen Habermas: Hohn bei Hofe vom 18.06.2019:

Habermas’ Rationalität beruht auf Glauben

Arnold Schölzels Ausführungen zu einem Sozialwissenschaftler der sogenannten Kritischen Theorie, die einen Großteil der gesellschaftskritischen Verve der 68er-, der Friedens-, Anti-Atom-, aber auch der sozialkritischen Bewegung der 70er bis 90er Jahre absorbiert und in eine systemaffirmative Richtung gelenkt hat, sind vom eigenen Erleben her nur zu unterstreichen. Auch sein Fazit, die Koinzidenz der Überlebtheit von SPD und Kritischer Theorie in einer Zeit, in der die beschworenen bösen Geister des Kapitalismus sich zu neuen Höhenflügen anschicken, ist treffend. Interessant wäre die Parallele zu Frankreich, wo die Linke einen anderen Totengräber hatte, nämlich den Strukturalismus von Michel Foucault und anderen »Theoretikern der Différence«. Das, was beide Theorierichtungen, wozu auch jene vom Weltbürgertum und einer Weltregierung gehört, gemeinsam haben, ist dies, dass sie Minderheitenschutz als Anlass sehen, funktionierende Gemeinwesen, also Systeme minderer Macht, im angeblich globalen oder allgemeinmenschlichen, universalen Interesse, das man heute den Großmächten andichtet, zerstören zu dürfen. Wenn Habermas sich nun dem »Glauben und seinem Verhältnis zum Wissen« zuwendet, dann wendet er sich damit nur der großen Lücke zu, die Aristoteles bei der Begründung der »Rationalität« hinterlassen hatte: Denn so überzeugend Habermas’ »Funktionskreise des instrumentellen und kommunikativen Handelns« als Realisationen moderner Kultur auch klangen, so sehr waren sie doch ob der unbeabsichtigten Neben- und Langfristfolgen der Handlungen auf den Persilschein angewiesen, den Aristoteles seiner Rationalität mit auf den Weg gegeben hatte: Es ist die göttliche Wohlordnung der Welt, die zunächst die menschlichen Zwecke adelt, die auf der Basis des Wissens über diese Ordnungen vom Menschen als oberstem Geschöpf angestrebt werden. Dann aber, wenn die Handlungen in der Verfolgung der guten Zwecke z. B. vielen anderen Menschen schaden, die Natur zerstören oder gar Weltkriege auslösen, dann ist es wiederum die gleiche göttliche Wohlordnung, die die rationalen Macher glauben lässt, dass schon alles gutgehen wird, weil alles, was getan wird, vernünftig ist! Auch wenn es wirklich kaum zu glauben ist: Nicht nur die Politik, sondern auch die moderne Wissenschaft vertraut (…) voll auf den Glauben, dass aufgrund der göttlichen Wohlordnung der Dinge schon alles gutgehen wird. »Not lehrt beten« trifft es genau, aber es ist dies bei Habermas bereits die seinen Theorien immanente, logische Konsequenz einer herrschaftskonformen Rationalität, die Neben- und Langfristwirkungen »zweckgerichteten« Handelns seit 2.300 Jahren ignoriert, die wir alle aber teilen!
Hans Wöcherl
Veröffentlicht in der jungen Welt am 27.06.2019.
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